Zeitreise

Finja Basan, Wahloltnerin und Kommunikationsmitarbeiterin.
         
         
            
               (Bild: Remo Buess)
Finja Basan, Wahloltnerin und Kommunikationsmitarbeiterin. (Bild: Remo Buess)

Neben meinem Bruder sitze ich auf dem Boden des Dachstocks im Norden Bayerns. Im Haus unserer Oma fühle ich mich wie in einer gut sortierten Brocki. Hier ist die Zeit stehen geblieben. Und auch die Bücher, durch die wir gerade blättern, entspringen einer anderen Zeit: leicht vergilbte aber sehr gut erhaltene Seiten aus den 60ern berichten über Reisen nach Italien, erzählen Liebesgeschichten oder erklären dir, wie Frau sich in den 60ern ohne Mann einen Platz in der Gesellschaft erkämpft. Wie sie einen Job findet, finanziell unabhängig wird, mit der Ehe wartet oder sie ganz sein lässt und sich der Schmach durch die Gesellschaft dafür mutig entgegenstellt.

Wie ist es bei euch eigentlich mit dem Gendern, fragt mich meine Mutter am Vorabend, als wir alle bei einem Wein im Wohnzimmer meiner Oma sitzen. Ich könne nicht für ein ganzes Land sprechen, aber in meiner Umgebung werde grösstenteils gegendert, entgegne ich, als meine Oma in Richtung meines Bruders loswettert, warum man das denn machen müsse, es habe doch bisher auch ohne funktioniert. Meine Mutter möchte nicht mehr nur mitgemeint sein, wirft sie ein, und mein Stiefvater ergänzt ironisch, dass sie das sowieso nie gewesen sei. «Weil sich die Welt verändert», beginnt mein Bruder die Argumentation, die von Oma mit einem herzlichen «Ach hör doch auf!» und einem Handwedeln im Keim erstickt wird.

Auf dem Dachstock blicke ich nun auf viele sehr schlecht gealterte Sätze und überlege, wann Oma wohl aufgehört hat zu hinterfragen. Denn so sehr ich mir bei vielen Passagen die Hände über dem Kopf zusammenschlage, so fortschrittlich muss das Werk mal gewesen sein. Ich frage Oma, ob ich das Buch haben darf, und hoffe gleichzeitig, dass ich den Wandel der Zeit in 60 Jahren mit einem positiven «Schade, dass es das früher nicht gab» bewerte.

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