Wir sehen uns
Die Dame mit dem Gehstock betrachtet gerade das letzte Foto auf der alten Holzbrücke, bevor sie sich sichtlich gerührt zu mir dreht. Hinter ihr liegen 70 Meter und 43 Fotos, die 27 Jahre Abschied zusammenfassen. Denn die Fotografin Deanna Dikemen hielt fast drei Jahrzehnte fest, was oft ganz nebenbei passiert: Tschüss sagen. Nach einem Besuch bei den Eltern setzen wir uns ins Auto oder aufs Fahrrad, während sie in der Tür stehen und noch einmal winken. Wir winken zurück und sausen wieder in den Alltag. Im Fokus liegt dann vor allem, was vor uns liegt, und selten die, die wir zurücklassen.
Das änderte sich während des IPFO International Photo Festival Olten auf der alten Holzbrücke. Hier stehen die Eltern der Fotografin in einer 70 Meter langen Ausstellung immer wieder winkend vor ihrem Garagentor, während 27 Jahre im Vorbeigehen vergehen. Dabei heisst es auch für immer Abschied nehmen: Als der Vater nicht mehr neben der Mutter steht und auch als auf dem letzten Bild niemand mehr winkt.
«Wissen Sie, mir geht es gerade genauso», erzählt mir die Dame mit dem Gehstock nach diesem letzten Foto. Sie werde nächstes Jahr 90, und deshalb berühre sie die Bildserie sehr. Ich verstehe sie. Denn seit ich ausgewandert bin, sind die Abschiede von meiner Familie seltener und die Pausen zwischen den Wiedersehen länger geworden. Die Zeit miteinander ist dafür zwar noch wertvoller, doch die Abschiede auch emotionaler geworden. Während ich meine Eltern in Olten zum siebten Gleis begleite und dann winkend am Zug stehe, ist es in Hamburg umgekehrt: Dann sehe ich meine Mutter durch das Fenster des ICEs in meine Richtung winken. Und so schwer die Abschiede jedes Mal sind, so klar ist mir in der Zeit auch geworden, dass zwischen dem Wiedersehen und dem Abschied auch viele schöne gemeinsame Momente liegen.