«Rückbau »
An der Oltner Unterführungsstrasse wird zur Zeit ein grosser Wohnblock dem Erdboden gleichgemacht. Früher nannte man das Abriss, heute Rückbau. Durch die grossen Fenster der «Galicia Bar» kann man beobachten, wie Männer und Maschinen in feinem Zusammenspiel das Gebäude säuberlich in seine Einzelteile zerlegen. Mächtiges Gebälk, massive Gusseisenrohre, währschaftes Mauerwerk aus massiven Backsteinen. Grosszügig angelegte Wohnungen. Fünfzigerjahre, würde ich schätzen. Ausgesprochen solide Bauweise.
Das Haus war gebaut worden, um Erdbeben, Kriege und Jahrhunderte zu überdauern. Jetzt verschwindet es, nach kaumeinem Menschenalter. In seinem Rücken ist die Fachhochschule entstanden, die Nachfrage nach modernen Studios und Appartements ist gross. Die Bedürfnisse der Menschen ändern sich, so heisst es, eine Stadt muss sichihnen anpassen. Und die Bedürfnisse ändern sich rasch. Immer rascher. Deshalb haben Häuser eine immer geringere Lebenserwartung. Wie Autos, Ehen und Wahlversprechen.
Für meinen Geschmack müssten Häuser mindestens zwei Menschenalter Bestand haben, also doppelt so lang wie glückliche Ehen. Autos müssten, wenn es nach mir ginge, nur halb so lang halten wie glückliche Ehen, also rund dreissig Jahre. Wahlversprechen dürften frühestens nach zwei Legislaturperioden gebrochen werden, also nach acht Jahren. Pflicht wäre das nicht. Alles dürfte gern länger halten.
Von so viel Dauerhaftigkeit sind wir weit entfernt, alle Statistiken belegen es. Eines aber frage ich mich, während die Baggerschaufel im Treppenhaus zärtlich den eichenen Handlauf des Geländers anknabbert: Ist es wirklich die Stadt, die sich den Bedürfnissen der Menschen anpasst? Oder sind es die Menschen, die ihre Bedürfnisse immer rascher anpassen müssen?
Gut möglich, dass der Schreiner noch lebt, der diesen eleganten Handlauf gemacht hat. Immerhin sechzig Jahre lang hat der Handlauf den Menschen gedient, wohl wahr. Aber schade um die schöne Arbeit ist es doch.
Alex Capus