Radium

In Olten gibt’s einen Herrn, der die Strassen schon ein paar Jahrzehnte länger als ich unsicher macht. Manchmal kreuzen sich unsere Spaziergänge.

„Haben Sie gelesen von diesen radioaktiv verseuchten Uhrmacherwerkstätten in Biel? Die gab’s bei uns auch, aber natürlich schlafen die Oltner Behörden. Wie immer.“

„Ach ja?“, sagte ich.

„Drüben auf der rechten Aareseite hat ein gewisser Jäger Zifferblätter mit Radium bemalt. Forschen Sie nach, finden Sie was raus!“

„OK“, sagte ich.

Also erkundigte ich mich beim Bundesamt für Gesundheitswesen und bat den Stadtarchivar um Hilfe. Der fand heraus, dass es laut den Adressbüchern 1949/50 und 1954 in Olten tatsächlich mindestens eine Radiumsetzerei gab. Inhaber: Hans-Konrad Jäger. Adresse: Florastrasse 34.

Ich fuhr mit dem Velo hin und schaute mir das Haus an. Heute ist dort ein Kindergarten untergebracht. Hm, dachte ich. Was jetzt?

Ich fuhr nach Hause und rief den Sohn des Hans-Konrad Jäger an. Dieser heisst Kurt Jäger, ist Zahnarzt von Beruf und wohnt in Starrkirch. Er erinnert sich bestens an die Radiumsetzerei seines Vaters, als Kind spielte er gern mit den leuchtenden Farben und malte sich seine eigene Geisterbahn auf die Wände. Nach dem Hinschied des Vaters übernahm er das Haus an der Florastrasse und sanierte es 1980/81 im Rahmen eines SUVA-Pilotprojekts, bis die Geigerzähler Ruhe gaben.

Die gemessene Strahlung war schon vor der Sanierung gering und im Vergleich zur natürlichen Strahlung vernachlässigbar gewesen, aber sicher war sicher. Eigenhändig spitzte Kurt Jäger die leuchtenden Geister seiner Kindheit von den Wänden. Der Kellerboden wurde ausgehoben und mit einer Folie zum Schutz vor aufsteigendem Radongas versehen. Schliesslich war alles gut, die Strahlung im Haus unterschied sich nicht mehr von jener in der Umgebung.

Aber dann explodierte am 26. März 1986 das AKW Tschernobyl, in ganz Europa stieg die radioaktive Belastung an – und im eben sanierten Haus an der Florastrasse 34 wurde wieder die gleiche Strahlung gemessen wie vor der Sanierung.

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