«Porentief»

Bald sind wieder Wahlen, überall hängen Plakate mit vielfach überlebensgrossen Portraits. Ich staune, wie die Kandidaten sich öffentlich porentief entblössen und um die Wette strahlen. Man möchte Mitleid haben, wenn’s nicht freiwillig wäre.
Vielleicht liegt es daran, dass die Plakate für Autofahrer gemacht werden. Bleibt man als Fusssgänger vor ihnen stehen, stellt sich eine Nähe ein, die so niemand wünschen kann - es ist, als ob man mit dem Kandidaten im Bett liege, ihm aus nächster Nähe ins Gesicht sähe und seinen Atem spüre. Jede Pore und jedes Gesichtshaar, jedes geplatzte Äderchen, jedes Pölsterchen und jedes Fältchen sind zu sehen, man ahnt private Freuden und Kümmernisse, von denen man gar nichts wissen möchte, da und dort sind Spuren von Schnaps oder Tabletten oder zu viel Schweinefleisch sichtbar… das können die Gründerväter so nicht gewollt haben, als sie die repräsentative Demokratie erfanden. Denn damals gab’s die Fotografie noch nicht.
Wenn man von diesen Plakaten ein paar Schritte zurücktritt, wird’s ein bisschen besser, aber nicht sehr. Die Poren verschwimmen gnädig, dafür wird umso besser das Unbehagen der Kandidaten vor dem Fotografen erkennbar. Viele Politiker, das weiss man ja, lächeln nur einmal alle vier Jahre, wenn sie fürs Wahlplakat zum Fotografen müssen.
Bei so viel Bereitschaft zur Entblössung ist es erstaunlich, wie wenig die Kandidaten auf ihren Plakaten zu sagen haben. «Blond und bodenständig», «Zwöi wo’s chöi», «Ein gutes Team», «Danke für Ihre Unterstützung»…. Ist das nicht alles furchtbar dünn? Wegen dieser austauschbaren Sprüche soll ich denen meine Stimme geben? Und wegen der Gesichtsfältchen?
Bei so viel Bildlastigkeit kann ich mir kein rechtes Bildnis machen. Ich hätte es lieber, die Kandidaten würden auf schamlose Fotos verzichten und dafür ganz ernsthaft aufschreiben, woran sie glauben und was sie wollen. Auf diesen grossen Plakaten gäb’s dafür doch richtig viel Platz.
 Alex Capus

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