Olten, Grenchen-Süd

Es ist ja schon wahr, dass wir Deutschschweizer uns im Welschland nicht sehr gut auskennen. Aber umgekehrt schaut’s auch nicht besser aus. Als ich kürzlich in Genf an der Buchmesse war, fragte mich eine Walliser Buchhändlerin:

«Sagen Sie, Monsieur, Sie sind aus Olten, nicht wahr?»

«Oui, Madame.»

«Mein Vater war vor 80 Jahren mal in Grenchen-Süd. Das ist der Bahnhof von Olten, nicht wahr?»

Darauf ich: «Hmm - Sie meinen Olten, Grenchen Süd? Wie Hamburg, Altona? Oder Genf, Cornavin?»

Sie: «Exactement.»

«Désolé, Madame, aber das ist nicht ganz richtig. Olten und Grenchen ist zwar dasselbe, aber nicht das Gleiche. Es liegen ein paar Dörfer dazwischen.»

Nachdem wir das geklärt hatten, erzählte mir die Frau ihreGeschichte. Ums Jahr 1916 hat im Unterwalliser Dorf Suen eine ledige und alleinstehende Bergbäuerin ein Baby bekommen, für das sie nicht sorgen konnte. Eine Madame Zermatten, die schon neun eigene Kinder hatte, nahm den Kleinen zu sich, wo er im Schoss der Familie heranwuchs. Ein besonders inniges Verhältnis hatte er zum jüngsten leiblichen Sohn Maurice, der nur sechs Jahre älter war.

Als aber der Kleine selber sechs Jahre alt war, tauchte ein Fremder auf, gab sich als dessen biologischer Vater zu erkennen und nahm ihn mit. Man wusste nichts über den Mann - ausser, dass er aus Grenchen war.Zurück blieb untröstlich der zwölfjährige Maurice, seinesgeliebten kleinen Adoptivbruders beraubt.

Er vergass ihn nie. Vier Jahrespäter, im Oktober 1926, reiste der sechzehnjährige Maurice Zermatten mit der Eisenbahn nach Grenchen-Süd, um ihn zu suchen. Er fand ihn nie, dafür begegnete er der Liebe. Und weitere 50 Jahre später, inzwischen ein berühmter Schiftsteller, schrieb er den Roman «Un Amour à Grenchen-Süd», erschienen1978 bei Denoël, Paris.

Vom kleinen Adoptivbruder hat er nie wieder gehört. Seine Tochter Françoise wurde Buchhändlerin und führt heute die schöne Buchhandlung «La Liseuse» im Herzen von Sion. Alex Capus

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