«New York einfach»

Wenn man in einer Kleinstadt wie Olten wohnt, fragt man sich zuweilen, ob man wirklich den Rest seines Lebens hier verbringen soll. Dazu möchte ich eine Geschichte über meine Mutter erzählen, die als junges Mädchen Primarlehrerin in
Büsserach war - und Büsserach ist nochmal ein anderes Kaliber als Olten. Sie unterrichtete an der gleichen Schule, an der sie lesen und schreiben gelernt
hatte, und sie wohnte noch bei ihrer Mutter und dem Vater, der ebenfalls Primarlehrer an der gleichen Schule war.
Es muss im Herbst 1960 gewesen sein, als ihr in Büsserach alles zu klein und zu eng wurde, also meldete sie sich bei der Internationalen Stellenvermittlung für Schweizer Lehrkräfte. Unter vielen Angeboten entschied sie sich für einen Job in New York als Erzieherin von Humphrey Bogarts Sohn Stephen (11) und Tochter Leslie (8). Das ist wirklich wahr und ungelogen. Bogart selbst war drei Jahre zuvor an Speiseröhrenkrebs gestorben. Seine Gattin Lauren Bacall schrieb meiner Mutter freundliche Briefe nach Büsserach und gab ihr Tipps für die Reise nach
New York.
Sie hätte nur noch fahren müssen. Aber dann tat sie es nicht. Von Büsserach nach New York - das war ihr irgendwie zu viel. Stattdessen entschied sie sich für einen Englischkurs in Oxford. Und auf der Fahrt dorthin lernte sie meinen Vater kennen.
Mag sein, dass sie es hin und wieder bereut hat, nicht nach New York gefahren zu sein. Wer weiss, was ihr Leben für einen Lauf hätte nehmen können. Andrerseits hat ihr Leben ja einen Lauf genommen, und zwar keinen schlechten. Und in all den Jahren, die danach noch folgten, hatte sie noch viele weitere Entscheide zu fällen, die genauso weitreichend waren. Wer weiss, was alles hätte sein können? Und was nicht passiert wäre?
Niemand weiss es, und es ist auch egal. Wichtig ist nur, was war. Und wichtig ist, was ist. Meine Mutter sitzt jeden Donnerstag mit ihren Freundinnen im Café Ring in fröhlicher Runde. Wäre sie nach New York gefahren, könnte sie nicht im Café Ring sitzen. Oder doch? Wer weiss. 

Weitere Artikel zu «Kolumne», die sie interessieren könnten

Kolumne28.02.2024

Oltner Hundeleben

Die Oltnerin Cathrine Müller hat herausgefunden, dass der Kanton über Jahre zu Unrecht Hundegebühren eingezogen hat. Seit das Verwaltungsgericht der…

Kolumne21.02.2024

Schön wars

Etwas durcheinander, weil diese Mail über das Aus des Stadtanzeigers so unerwartet kam, schliesse ich das Fenster meines digitalen Posteingangs. Ich greife zum…

Kolumne14.02.2024

Winterfreuden

Diesen Winter leben wir im Sparmodus. Nachdem wir unser Haus umgebaut haben, muss zuerst wieder Geld hereinkommen, bevor wir es ausgeben können. Konkret heisst…