«Neues Jahr»
![Irène Dietschi, Journalistin. (Bild: A. Albrecht)](/fileadmin/_processed_/8/e/csm_sao_2016-01-13_750_0900_619402_Dietschi_970ab2a296.jpg)
Ich habe meinen Ehering verloren. Am 2. Januar, sozusagen als Auftakt zum Neuen Jahr und nur vier Tage nach unserem 20. Hochzeitstag, kam er mir in der Küche abhanden. «Vielleicht hast du ihn in die Brötchen eingebacken», schlug unsere Jüngste vor – denn ich hatte mit Teig hantiert und dabei wie immer alle meine Ringe auf den Tisch abgelegt. Doch Irrtum, die Brötchen waren leer. Eine Suchaktion im ganzen Haus samt Durchwühlen des Abfalls verlief erfolglos. «Wir können den Ring ja nachmachen lassen», tröstete mich mein Gatte. Mir war zum Heulen. So ein Fehlstart ins Neue Jahr, und erst recht ins dritte Ehejahrzehnt! Wie würde das enden?
Tags darauf fuhren wir zum Neujahrskonzert nach Solothurn. Das Sinfonieorchester Biel-Solothurn spielte im Stadttheater festliche Wiener Salonmusik: Märsche von Robert Stolz und beschwingte Melodien von Walzerkönig Johann Strauss, aber auch Stücke von dessen schwermütigem Bruder Josef Strauss, davon Einiges in Moll. Das Neue Jahr verheisse ja nicht nur Gutes – deshalb sei das Programm stellenweise von Melancholie durchzogen, erklärte der Dirigent. Wie recht der Mann hatte, dachte ich betrübt, und betrachtete meinen nackten Ringfinger.
Am Drei-Königs-Tag tauchte mein Ring wieder auf. Mein Gatte hatte ihn entdeckt. Ich hatte ihn in sorgsamer Absicht, aber offenbar völlig gedankenlos auf dem hohen Küchenbrett deponiert. Besser den Ehering auf dem Brett als ein solches vor dem Kopf, dachte ich, als wir die ganze Familie versammelt unseren Königskuchen assen. Mein Gatte jedoch sagte feierlich: «Nach 20 Jahren Ehe hängt das Glück nicht von einem Ring ab.» Die Zukunft erschien mir auf einmal so leicht wie ein Wiener Walzer.