Neue Aussichten
Da sitze ich jetzt also in meinen Trainerhosen auf meinem neuen Balkon und geniesse die neue Aussicht. Ein paar Kartons stehen zwar noch rum, von den gezügelten Bildern ist auch noch keins aufgehängt, aber nach Zuhause fühlt es sich trotzdem schon an. Das Knarzen der Holzböden, die Einbauschränke, deren Türen meine Freundin immer offenstehen lässt und mit den Friseurinnen, die ihre Pausen rauchend auf unserer Eingangstreppe verbringen, weil sie sonst keinen trockenen Platz zum Sitzen haben, hab ich mich auch schon angefreundet.
Vor allem aber gefällt mir die neue Aussicht. So hübsch der Blick auf die Aare vorher auch war: Wie in den Ferien ziehe ich auch sonst geschäftiges Stadtgewusel einer idyllischen Landschaft jederzeit vor. Berge, Bäume und putzige Eichhörnchen sind zwar schön anzusehen, doch wie könnten sie jemals mit den kleinen und grossen Dramen des menschlichen Alltags mithalten?
Die Bilanz der letzten Tage: Auch Ärzte vergessen in ihrer Praxis manchmal, das Licht auszuschalten, in Kebap-Läden treffen sich manchmal auch ganze Gruppen rüstiger Senior/innen zum Mitternachtssnack und für das Aufhängen eines neuen Verkehrsschildes scheint es schon auch mal drei Arbeiter zu brauchen, die dann – ganz vorbildlich –, jedes Mal an der Fussgänger-Ampel warten, wenn sie ein Werkzeug in ihrem Auto auf der anderen Strassenseite holen müssen.
Doch können neue Aussichten auch lästig werden. Neue Aussichten provozieren neue Ideen oder lassen alte Ideen zumindest neu aufscheinen. Zwischen Kino Capitol und Stadthaus schnurstracks auf den Munzingerplatz geht mein Blick und mein Kopf denkt sich erst die Autos weg und dann verweilende Menschen hin.