Nach Wienacht

Urs Bloch, Mediensprecher.
Urs Bloch, Mediensprecher.

Mein Grossvater hat manchmal im Telefonbuch gestöbert, er suchte vertraute Ortschaften und Namen. Damit gab er sich einen Platz auf dieser Welt und vergewisserte sich seines sozialenNetzes - es war seine Art von Facebook lange vor dem Internet. Grossvater war auch real unterwegs, die Fahrten mit Zug und Bus plante er vorgängig mit Hilfe des Kursbuches. Es ist gut, dass Grossvater damals lebte, er hätte heute Mühe, sich zurechtzufinden. Das Kursbuch ist mit dem Fahrplanwechsel vom vergangenen Sonntag zum letzten Mal erschienen. Drei Bände mit insgesamt 5’900 Seiten umfasst das 2,6 Kilogramm schwere Werk der Postauto-, Bus- und Bahnverbindungen. Im Zuge der Digitalisierung ging die Nachfrage kontinuierlich zurück und die Herstellung rechnet sich nicht mehr.
Im Kursbuch ist die Schweiz abgebildet – von Aadorf bis Zwischenflüh, von Diepfligen über Egschi bis Ritzisbuhwil. Beim Stöbern in Tabellen und Abfahrtszeiten trifft man auf immer neue, unbekannte Orte. Unzählige hauchdünne Seiten halten damit unser Land zusammen. Wer im Kursbuch schmökert, begibt sich auf den Nufenenpass oder ins Aathal. Er ist gedanklich im Raum und vergisst dabei die Zeit. Doch kaum jemand nimmt sich heute noch die lange Weile für eine solche Beschäftigung. Effizienz und Zeitgewinn sind die Elixiere der Gegenwart. Dank dem Handy finde ich eine Zugverbindung so schnell, dass ich in dieser Zeit das Kursbuch noch nicht einmal zur Hand hätte. Schon bald werden wir dem Kursbuch im Museum begegnen und feststellen, dass wieder ein Teil unserer Welt zur Welt von gestern wurde. Dann lassen wir noch einmal den speziellen Duft dieses Papiers in unsere Nase strömen und suchen die Verbindung von Rorschach nach Wienacht.

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