Leben im Konjunktiv
Was wäre, wenn es nicht so wäre, wie es immer ist? Dann gäbe es beispielsweise eine Nebeluntergrenze. Diese Vorstellung hat etwas ganz und gar Faszinierendes und daraus resultierte eine ungeahnte Dynamik. «Der Nebel löst sich heute im Tagesverlauf nur stellenweise auf, die Untergrenze liegt bei 700 Metern», würde der Nachrichtensprecher am Morgen verkünden. Die Folgen wären klar: An jedem freien Tag zur Winterzeit würden Tausende aus den Bergregionen dem Nebel entfliehen und in tiefere Lagen pilgern, wo sie strahlender Sonnenschein erwartete. «Es tut einfach gut», würde der Davoser zum Zermatter sagen, «zwischendurch dieser grauen Suppe zu entfliehen.»
Für die Oltner Bevölkerung gäbe es Bewunderung statt Mitleid: «Wow, du wohnst in Olten, in diesem Sonnenloch!» Und die Oltner – sie sind schliesslich ein gewitztes Völklein – hätten längst ein Geschäft aus dem meteorologischen Vorteil gemacht. Gleich beim Bahnhof würden Angestellte von Olten Tourismus die bleichen Ankömmlinge aus den Bergen mit einem sonnengebräunten Strahlen empfangen. Es gäbe Winterwanderwege an der Aare entlang oder auf den Born – immer knapp unter der Nebeluntergrenze. In den Oltner Lokalen – sie wären jetzt natürlich alle auch am Sonntag offen – könnte man draussen sitzen, ein Fondue essen und sich die Nase von den Sonnenstrahlen kitzeln lassen. «Ziehen Sie nach Olten! Wir reservieren Ihnen einen Platz an der Sonne», hiesse der Slogan der Wirtschaftsförderung. «Es ist gut, sich die Welt manchmal anders vorzustellen, Möglichkeiten statt Gewissheiten zu sehen. Vielleicht könnte man dadurch Dinge bewegen, die uns bis anhin unverrückbar vorgekommen sind», denke ich und gleite mit der Seilbahn bergwärts aus dem Nebel in die Sonne.