«Komplett nackt »

Heute will ich mal nicht lustig sein, sondern etwas zur Sprache bringen, was mich schockiert hat.

Als ich kürzlich meinen Keller entrümpelte, belud ich meinen Veloanhänger mit Altmetall und fuhr hinunter ins Entsorgungszenter, wo auch der Strassenstrich ist. Es war nachmittags

um vier, die Prostituierten

warteten auf Kundschaft.

Manche waren nackt. Nicht nur fast nackt, notdürftig mit einem Fummel bedeckt, der mehr

herzeigt als verbirgt - sondern komplett nackt. So standen sie im Industrieviertel am Strassenrand, die Autos der Freier fuhren langsam vorbei. Mir war das neu, dass es das gibt, aber es scheint seit einiger Zeit gang und gäbe zu sein, dass sich Damen auf der Strasse splitternackt ihrer Kundschaft darbieten. Keine Kleider, kein Schmuck, keine Uhr, nichts. Die eine oder andere hatte vielleicht Flipflops an den Füssen. Aber sonst waren sie nackt.

Das eigentlich Schockierende war nicht die nackte Haut; die anderen Prostituierten, die im Bikini dastehen, zeigen ja nicht wesentlich weniger. Schockierend war das Fehlen, das bewusste Weglassen aller Attribute, mit denen wir Menschen unsere Individualität markieren und uns als Kulturwesen kennzeichnen. Als ich mir diese Frauen anschaute, schien mir ihre Botschaft klar: Komm her, sagten sie den vorbeifahrenden Freiern,

du brauchst kein schlechtesGewissen zu haben; denn du siehst ja, ich bin nicht wirklich ein Mensch, sondern nur eineArt Ding zur Stillung deinerBedürfnisse.

Die zweite schockierendeErkenntnis war, dass die Rush Hour auf dem Strassenstrich nicht nachts um halb eins stattfindet, sondern zwischen 17 und 19 Uhr, wenn die Männer Feierabend haben. Dann fahren sie noch rasch ins Industrieviertel und holen sich so ein nacktes Ding, das ihnen hinter einem Baum am Aarekanal ihr Bedürfnis stillt. Und dann fahren sie im Auto hinaus ins Grüne, wo Gattin und Kinder im trauten Heim auf sie warten.

Aber eins fragt man sich doch: Welches Bedürfnis nur mussda gestillt werden?

Alex Capus

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