«Knochen»

Kürzlich hat der Bagger hinter der Oltner Stadtkirche, wo früher der Friedhof war und heute Autos parkieren, einen Graben ausgehoben. Es ragten Schienbeinknochen und Schädeldecken aus dem Erdreich, während sich die Baggerschaufel weiter frass. Ein Arbeiter hielt einen Knochen in der Hand und rief: «Den nehme ich in die Skiferien mit, als Reserve!»

Ich hielt mich an der Absperrung fest und beobachtete das Spektakel. Die Graberei war unvermeidlich, es mussten neue Leitungen in den Boden gelegt werden. Dafür braucht’s ordentliches Werkzeug, man kann so einen Graben nicht mit der Zahnbürste ausheben. Aber ein eigentümlicher Anblick war’s trotzdem.

Da blieb ein Oltner Architekt neben mir stehen, der sich mit Baugruben auskennt.

«Drei Monate Baustopp!» rief er und freute sich, dass es nicht seine Baugrube war. «Müsste man da nicht den Pfarrer rufen? Damit der die Knochen einsegnet oder so?»

«Den christkatholischen oder den römischen?» fragte ich.

Verzwickte Sache. Die Kirche ist christkatholisch, aber die Knochen waren mit Sicherheit römisch-katholisch. Zu ihren Lebzeiten gab es die christka-tholische Konfession noch nicht.

Der Arbeiter warf den Schienbeinknochen zurück in die Grube, die Baggerschaufel frass weiter. Da blieb ein berühmter Oltner Anwalt stehen und machte ein verschmitztes Gesicht. «Strafrechtlich ein interessanter Fall», sagte er. «Pietät kann man nicht unbedingt einklagen, aber Störung der Totenruhe schon.» Er zückte seine Kamera und machte ein paar Fotos.

Mir fiel ein, dass hier irgendwo seit vielen Jahrzehnten Martin Disteli unter dem Asphalt liegt, der grösste Künstler unserer Stadt. Der ist schon lange tot und im Himmel, dem tut nichts mehr weh. Aber wenn er zu Lebzeiten gewusst hätte, was die Nachgeborenen dereinst mit seinen Gebeinen anstellen… ich glaube, ich lasse mich kremieren.

Alex Capus

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