Hinter der Fassade
Den Glitzerzylinder auf dem Kopf, die Tröte in der Hand und über alle Etagen schallt das Akkordeon. Die Treppenhausparty ist im vollen Gange, und der Ort, an dem sonst Ruhe herrschen soll, wird zur Halli-Galli-Zone. Während einer die Quetschkommode bespielt, gibt es bei den anderen Essen und Trinken, dazu toben meine Freundin und ich durch das Haus, in dem ich um die Jahrtausendwende wohne.
Hier, wo wir Wohnung an Wohnung unsere Leben lebten, über- und nebeneinander frühstückten, weinten, lachten und einander mit Mehl und Eiern aushalfen, wenn das mal ausging. Hier am Stadtrand bin ich aufgewachsen. Ich erinnere mich gern an den Moment, an dem aus Nachbarn für eine Weile Feiernde und Nachbarskinder zu Freunden wurden. Auf der grossen Wiese vor dem Haus lernten wir Handstände und Radschläge in Eigenregie, vom Balkon blickten wir alle auf die grosse Birke.
Und vom Balkon über uns stürzte sich eines Nachts unsere Nachbarin. Der Moment, in dem aus Nachbarn Rettende werden mussten. Das war meine Mutter. Denn der Weg nach unten führte an ihrem Zimmerfenster vorbei: «Da habe ich über nichts nachgedacht und Gott sei Dank an alles gedacht. Aufspringen, runter gucken, 112 anrufen, anziehen, Decke und Taschenlampe mitnehmen, runter – alles in zwei Minuten», erzählt sie, als wir an Weihnachten darüber sprechen. «Wie hat sie das überstanden?», frage ich. «Zum Glück ist sie fast vollständig genesen. Nach 35 Jahren mussten sie aber ihre Wohnung aufgeben. Der 3. Stock war nun unerreichbar», erzählt sie, lässt mich nachdenken und erkennen: Obwohl wir so nah beieinander leben, die Namen und Partner kennen, sie auf der Strasse grüssen und mit ihnen feiern, findet das wahre Leben doch oft hinter der Fassade statt. Eine Fassade, hinter die wir nur selten blicken können.