«Essig»
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Als Oltner weiss manbekanntlich nicht so genau, wo Solothurn liegt. Manche sagen,in der Nähe von Aarau irgendwo. Ob das stimmt, weiss ich nicht.
Mein Nachbar Urs war kürzlich in Solothurn, weil er dringend seinen Pass verlängern musste.
«Sonderbare Stadt», sagte er nach seiner Rückkehr. «Die haben da Brunnen, aus denen man keinWasser trinken kann.»
«Wie das?» fragte ich.
«Die Wasserrohre der Solothurner Brunnen sind in einer Höhe angebracht, dass kein Mensch rankommt», sagte Urs. «Ich traf durstig in Solothurn ein und wollte mich am Brunnen laben, der da hinter dem Stadttor vor dem weissenGebetshaus steht - aber es war aussichtslos. Kein Mensch kommt da ans Wasser ran. Ein Riese müsste man sein, oder ein langhalsiger Paarhufer.»
«Was hast du gemacht?» fragte ich. «Dir einen anderen Brunnengesucht?»
«Die sind dort alle so hoch oben!» Urs schüttelte nachdenklich den Kopf. «Ich habe keinen gefunden, bei dem ich ans Wasser rangekommen wäre.»
«Die Solothurner Brunnen sind wahrscheinlich nicht für Unsereiner gemacht», sagte ich, «sondern für bischöfliche Kamele sowieadlige Lamas und Giraffen.»
«Gibt es in Olten auch Brunnen,bei denen man nicht ans Wasserrankommt?»
«Augenblick», sagte ich, tat einen Griff in meine Handbibliothek, zog das Verzeichnis der Oltner Brunnen hervor und blätterte es rasch durch. «Die Antwort lautet nein, meinlieber Urs. In Olten gibt es keinen Brunnen, bei dem man nicht ans Wasser rankommt.»
Wir schwiegen eine Weile.
«Und?» sagte ich. «Wie fandest du Solothurn sonst so?»
«Sonderbar», sagte Urs. «Das wirst du mir nicht glauben, aber mitten in der Stadt roch es irgendwienach Essig. Und das, wo mich so dürstete.»
«Essig?» fragte ich.
«Die haben da eine Essigfabrik»,erklärte Urs. «Mitten in der Stadt. Ich weiss, das glaubt mir in Olten keiner.» Alex Capus