Ein Märchen
«Aber das kennst du doch auch aus Deutschland, oder?», war eine Frage, die ich in den letzten Wochen hörte, wenn ich mich über die Bundesfeiertradition und den Nationalstolz mit all den dazugehörigen Fahnen austauschte. Nein, ehrlich gesagt kenne ich das nicht aus Deutschland. Der «Tag der Deutschen Einheit» bedeutet im Alltag meist einfach einen freien Tag. Reden, Festmusik und Fahnen, die fröhlich im Wind wehen, gehören nicht dazu.
Während einige am 1. August in Olten gar zu wenige Fahnen vermuteten, war in Deutschland bis 2006 oft schon eine Fahne eine zu viel. Dann gaben uns der Fussball und sein «Sommermärchen» das erste Mal die Gelegenheit, ohne schlechtes Gewissen die deutschen Farben zu zeigen. Doch ein Märchen bleibt ein Märchen, und so verschwanden die Fahnen danach wieder in den Schubladen.
Eine Fahne am Balkon ist abseits von Fussballromantiken kaum vorstellbar. Denn unsere Geschichte prägt uns. Auch meine Generation, die die Kriegszeit nur noch aus dem Geschichtsbuch oder von Erzählungen der Gross- und Urgrosseltern kennt. Schwarz-rot-goldene Fahnen führen abseits des Sports immer noch schnell dazu, der falschen Partei zugeordnet zu werden.
Dabei heisst es so schön: «Man kann nur von anderen geliebt werden, wenn man sich selbst liebt». Doch die Liebe zum eigenen Land ist oft ein Balanceakt. Denn während Patriotismus heisst, sein eigenes Land zu lieben und offen für andere zu bleiben, werden beim Nationalismus die anderen abgewertet. Und damit uns Deutschen letzteres nicht unterstellt wird, haben wir die Liebe zum Land wohl lieber einfach verlernt.
Doch als ich mich vor zwei Wochen nach meiner Bundesfeierrede in Wangen bei Olten auf einer rot-weissen Fahne verewigen darf, erlebe ich hautnah wie dieser Balanceakt gelingt. Denn in dem Moment fühle ich mich vor allem eins: willkommen.