Ein Blick zurück
Sag morgens mir ein gutes Wort, bevor du gehst vom Hause fort.» So beginnt das Lieblingsgedicht meines Uropas. 2010 hat er uns mit 98 verlassen. Freiwillig. Nach knapp 70 Jahren Ehe ging sechs Jahre vorher meine Uroma und wurde 94. «Es kann so viel am Tag geschehn, wer weiss, ob wir uns wiedersehn.», geht es weiter.
Ich habe, trotz vieler Tränen, gute Erinnerungen an ihren Abschied. Auf die Särge im Familiengrab fielen jeweils Rosenblätter statt Sand. Oma Hanna wollte ja auch schon zu Lebzeiten nicht mit Sand beworfen werden, war die Begründung. Und die fand ich schlüssig. «Sag lieb ein Wort zur guten Nacht, wer weiss, ob man noch früh erwacht.», fährt Opas Lieblingsgedicht fort.
Nur kurze Zeit war ich Teil ihres Lebens. Konnte bei ihnen das kleine Magnum-Eis mit weisser Schokolade essen und beim Puzzlen auf dem Boden einschlafen. «Das Leben ist so schnell vorbei, und dann ist es nicht einerlei,», ist der nächste Vers. Oma schlief im Hitzesommer 2004 ein letztes Mal neben Opa ein und ist ihm danach einige Male im Traum begegnet. Da bist du ja, ich hab so lang auf dich gewartet, hat sie dann gesagt. «Was du zuletzt mir hast gesagt, was du zuletzt mich hast gefragt.»
Nur wenige Jahre hatte ich mit ihnen – die nie im Streit schlafen gingen und zwei Kriege überlebten. Und ich durfte so viel von ihnen mitnehmen. Denn die jungen Jahre sind die, die uns prägen. Drum lohnt sich ab und zu ein Blick zurück – und immer ein gutes Wort. «Drum lass ein gutes Wort das letzte sein, bedenk, das letzte könnts für immer sein.» So endet es. So endet das Gedicht, das jetzt noch, von meiner Tante kalligraphiert, an meiner Wand hängt und zeigt: Auch, wenn die Familie weit weg ist; auch, wenn sie geht – und das ist okay –, sie ist da.