«Die Unterwelt»
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Ich liebe Baugruben und aufgerissene Strassen, da gibt es immer etwas zu gucken. In Olten tritt in den tiefsten Gruben Kalkstein-Meeresboden zutage, der seit 150 Millionen Jahren kein Sonnenlicht mehr sah. Darüber liegen erheblich jüngere Schichten Moder und Geröll. Und ganz zuoberst, nur einen Meter oder zwei unter dem Strassenbelag, liegen die Rohre und Leitungen, die unsere Väter und Grossväter in den Boden gelegt haben.
Ich kann mich nicht satt sehen an diesen Schächten, Kabeln und Kanälen, die Trinkwasser, Gas und Strom in die Häuser führen und das schmutzige Wasser wieder ableiten. Dass das alles so perfekt funktioniert, ist ein grosses Wunder. Als Bürger muss man für gewöhnlich ja gar nicht daran denken, was für ein Wunderwerk da im Boden liegt und nur alle fünfzig Jahre zutage tritt, wenn die Leitungen ersetzt werden müssen. Dann guckt man in die Grube und bewundert die Fach-leute vom Bau und der Verwaltung, dass die überhaupt den Überblick haben, wo welches Rohr liegt und wo welche Leitung mit welchem Durchmesser und welchem Gefälle hingeführt werden muss.
Irgendwann wird der Graben wieder zugeschüttet und die Erde festgestampft. Und das ist gut so, denn die Unterwelt hat am Tageslicht nichts verloren. Kürzlich bin icheinem Freund ein bisschen zur Hand gegangen, der in einem Mehrfamilienhaus an der Unterführungsstrasse die Kanalisation sanierte. Der Presslufthammer dröhnte, die Betonsplitter flogen wie Schrapnelle durch den Keller. Da krochen durch das aufgebrochene Rohr katzengrosse Ratten hervor und schauten neugierig, was wir da machten - in all dem Lärm, all dem Staub, in all dem Beton-Sperrfeuer. Die Ratten waren wirklich katzengross. Und Angst hatten sie keine. Wir hatten Angst.
Seither weiss ich wieder: Die Unterwelt ist da. Ganz nah, auch wenn wir sie nicht sehen. Es ist gut, wenn alle Löcher zugeschüttet sind. Und der Boden hübsch festgestampft.
Alex Capus