Die Erotik der Baustelle

Gäbe es in Olten einen Preis für die spektakulärste Baustelle, er ginge dieses Jahr an die Christkatholiken. Das Gerüst der Stadtkirche hat eindrückliche Ausmasse, man kann nicht umhin, immer wieder raufzuschauen. Verhindert die Macht der Gewohnheit normalerweise, dass man den sakralen Bau mitten in der Stadt überhaupt noch wahrnimmt, so macht sich die Kirche nun richtig gross. Das Gerüst umgibt das ganze Gebäude und zieht damit die Blicke an. Damit ist einmal mehr bewiesen, dass eine raffinierte Hülle oft prickelnder ist, als völlige Nacktheit. Die Erotik dieser Baustelle wird noch gesteigert, indem die Christkatholiken die Renovation ihres Gotteshauses kühn vermarkten. «Durch Weisheit wird ein Haus gebaut, durch Verstand erhalten», heisst es auf einem riesigen Banner, der das Gerüst an der Stirnseite schmückt. Die Christkatholiken klopfen sich damit ein bisschen selbst auf die Schultern und mussten nicht einmal viel Geld für eine
PR-Agentur ausgeben. Der Spruch ist aus der Bibel.
Was den Christkatholiken recht ist, soll uns billig sein, dachten die Römischkatholiken und bauten flugs an der Martinskirche auch ein kleines Gerüst an. Dort hat man nämlich über 100 Jahre nach dem Bau gemerkt, dass der bestehende Zugang zum Josefsaal, der an der Kirche angebaut ist, im Notfall nicht ausreicht. Maximal 50 Personen dürften unter diesen Umständen den Saal bevölkern. Dank dem erwähnten Gerüst als Notausgang sollen weiterhin Anlässe mit wesentlich mehr Menschen möglich sein. Die Behörden trauten offenbar selbst in einer Kirche dem Schutz des Allmächtigen nicht. Der temporäre Fluchtweg ist übrigens nur vom Saal und nicht von der eigentlichen Kirche her zugänglich. Er nützt also nichts, sollte die Predigt mal zu langweilig sein.