«David und Sabrina»

Mein NachbarUrs ist Lehrer, deshalb redeter lieber, alsdass er zuhört.

«Hast Du von dieser Selbstmordwelle unter Lehrern in China gehört? Die Welt rätselt über die Gründe, aber ich kann dir sagen - das ist wegen der Einkind-Politik, die die dort haben.»

«Ach ja?» sagte ich.

«Weil die chinesischen Eltern nur noch ein Kind haben dürfen, halten sie dieses für einzigartig, das ist verständlich. Sie brüten ihr Einzelkind aus, erfreuen sich an ihm und begackern und begluckern es, bis es in die Schule kommt.»

«Das tun alle Eltern», sagte ich.

«Aber das Gluckern hat seine Grenzen, mehr als 24 Stunden am Tag geht nicht. Wer mehrere Kinder hat, teilt sich das auf. Ein Kind mit neun Geschwistern wird zehnmal weniger begluckert als ein Einzelkind.»

«So ist das also in China»,sagte ich.

«Jetzt versetz dich mal in dieLage chinesischer Lehrer», sagte Urs. «Die haben von Gesetzes wegen in der Klasse 100 Prozent rundumbegluckerte Einzel-kinder.»

«Chinesische Kinder sind doch nicht anders als unsere», sagte ich.

«Die Kinder sind nicht das Problem, sondern die Eltern», sagte Urs. «Weil ihnen der Vergleich fehlt, halten sie ihren Thronfolger für ein hochbegabtes Juwel, ein Genie, einen ungeschliffenen Diamanten, der eigentlich Einzelunterricht verdient hätte und mindestens Atomphysik studieren muss. Hätten sie mehrere Kinder, würden sie merken, dass die alle lieb und klug und sehr begabt sind. Aber ganz normal.»

«Diese Chinesen», sagte ich.

«Du kannst dir nicht vorstellen, was die für einen Zirkus veranstalten, wenn ihr vergöttertes Kind zum Beispiel dem Bannfeld- statt dem Hübelischulhaus zugeteilt wird», sagte Urs. «Oder wenn der David auf dem Pausenplatz von einem Schneeball getroffen wird. Oder wenn dieSabrina im Rechnen eine Dreibisvier schreibt. Das hält der stärkste Lehrer nicht aus.»

«Gibt’s in China ein Hübelischulhaus?» fragte ich.

«Das war jetzt bildlich gesprochen», sagte Urs.

Alex Capus

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