Coq’d‘Or
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Am meisten Lärm macht Olten nachts am Bahnhof, wenn die Schienen frei sind für die endlos langen Güterzüge, die mit kreischenden Rädern tausendtonnenweise Kies, Stahl, Erdöl und ähnliches durch den Kontinent transportieren. Güterzüge sind laut, da kann man nichts machen, weil sie altmodische Bremsen haben, die mit Bremsbacken aus Stahl die Laufflächen der Räder aufrauen. Der Bahnhof macht Lärm, wir Oltner wissen das und arrangieren uns damit. Die Bahn bringt uns Arbeit und Brot, ohne die SBB könnten wir dichtmachen.
Seit einer Weile kann man nachts, wenn grad kein Güterzug vorbeidonnert, am Bahnhof ein paar junge Leute hören, die lachen, quatschen, auch mal brüllen. Das sind die Gäste des „Coq’d’Or“, die vors Haus gehen, um eine Zigarette zu rauchen. Das „Coq’d’Or“ ist das beliebteste und interessanteste Lokal für junge Leute in weitem Umkreis. Es gibt Konzerte und Poetry Slams, der Barman betreibt eine Literaturzeitschrift.
Manchmal stehen ziemlich viele Gäste vor dem „Coq’d’Or“, und manchmal sind sie richtig laut. Junge Leute machen Lärm, da kann man nichts machen, weil siealtmodische Bremsen haben. Die meisten Oltner wissen das und arrangieren sich damit. Die jungen Leute werden dereinst unsere AHV erwirtschaften, ohne sie könnten wir dichtmachen.
Leider hat das „Coq’d’Or“ einen Nachbarn, der sich mit dem Lärm nicht abfinden will. Und weil er gegen die Güterzüge machtlos ist, beschwert er sich bei der Polizei über die jungen Leute. Bei Nachtruhestörung muss die Polizei ausrücken, Gesetz ist Gesetz. Nun hat das „Coq’d’Or“ ein Ultimatum am Hals: Noch eine solche Klage, und ihr Lokal wird geschlossen.
Ich fürchte, diese letzte Klage wird kommen. Aber was dann? Wohin sollen die jungen Leute umziehen, wenn schon der Bahnhof ihren Lärm nicht aushält? Ins Industriequartier vielleicht, zu den Nutten und Gebrauchtwagenhändlern? Ist das dann besser? Was, wenn die jungen Leute aus Olten wegziehen? Wollen wir das?