«Am Bahnhof»
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Olten ist die soziale und wirtschaftliche Wasserscheide der Schweiz, das kann man jeden Werktag um sieben Uhr am Bahnhof beobachten. Unten in der Personenunterführung sind wir noch alle gleich und kunterbunt gemischt. Aber wenn wir die Treppen hinauf zu den Perrons steigen, teilen wir uns auf in deutlich unterscheidbare Gruppen.
Auf Gleis 2 stehen die Leute, die in Zürich bei einer Bank arbeiten. Oder beim Fernsehen. Die Männer tragen taillierte Anzüge und machen kompetente Gesichter, und die Frauentragen Deux-Pièces und schauenebenso drein.
Auf Gleis 3 stehen die Leute, die in der Basler chemischen Industrie arbeiten. Dort scheint der Dresscode weniger streng zu sein, Freizeitkleidung herrscht vor. Viele tragen Trekkingkleider und führen Wasserflaschen mit sich, als würden sie zu einerExpedition in die Tundra Sibiriens aufbrechen.
Auf Gleis 8 stehen die Leute, die inSolothurn im Bildungs- und Sozialbereich arbeiten. Man sieht Sandalen und Freitag-Taschen, viele haben ihr Frühstück von zu Hause mitgebracht.
Auf Gleis 9 stehen die Leute, die in Bern bei der Bundesverwaltungarbeiten. Viele tragen graue, nicht sehr gut sitzende Jacketts und Mephisto-Schuhe. Man muss vermuten, dass es in Bern einen spezialisierten Ausstatter für Bundesbeamte gibt.
Auf Gleis 12 stehen Touristen undItaliener, die nach Luzern und weiter nach Italien wollen. Berufsverkehr sieht man keinen. In Luzern arbeitet nach meiner Beobachtung niemand.
Ich wünschte mir, dass einmal aneinem Morgen die SBB ihre Züge auf anderen Gleisen einfahren liesse. Dann würden die Solothurner nach Zürich fahren und dort einen Tag lang die Bankenbranche aufmischen. Die Zürcher würden nach Bern fahren und die Bundesbeamten aus den Hängematten schütteln. Die Basler Chemie-Arbeiter dürften nach Italien in die Ferien fahren, und die Touristen und die Italiener dürften Solothurner Torte kosten.
Alex Capus