«Sie werden oft übersehen»

Theatergruppe Tocca 2003 gründete die in Starrkirch-Wil wohnhafte Zürcherin Esther Dietrich-Niggli die Theatergruppe Tocca, die seither regelmässig integrative Stücke aufführt. In den nächsten beiden Tagen steht Tocca wieder auf der Oltner Schützi-Bühne.

Sie hat die Gruppe Tocca gegründet: Esther Dietrich-Niggli. (Bild: Achim Günter)

Sie hat die Gruppe Tocca gegründet: Esther Dietrich-Niggli. (Bild: Achim Günter)

Das Tocca-Projekt 2018 hiess «entgleist», 2021 folgt nun «Auftritt». (Bild: Raphael Studer)

Das Tocca-Projekt 2018 hiess «entgleist», 2021 folgt nun «Auftritt». (Bild: Raphael Studer)

«Manchmal lacht man mittendrin einfach los.» (Bild: Achim Günter)

«Manchmal lacht man mittendrin einfach los.» (Bild: Achim Günter)

Im Zweijahresrhythmus stehen seit 1997 Laienschauspielerinnen und -schauspieler in einem besonderen Projekt auf der Schützi-Bühne. Die allermeisten Darsteller weisen eine geistige oder körperliche Behinderung oder auch eine psychische Beeinträchtigung auf; viele von ihnen besuchten eine Heilpädagogische Sonderschule im Kanton Solothurn und arbeiten nun grösstenteils in der Vebo. Die integrative Theatergruppe namens «Tocca» wurde von der Regisseurin Esther Dietrich-Niggli aus Starrkirch-Wil vor beinahe 20 Jahren gegründet. Schon zuvor hatte die 67-jährige Heilpädagogin in Olten integrative Theaterstücke aufgeführt, damals noch als Leiterin des Bildungsklubs der Stiftung Arkadis.

Jeweils nach den Sommerferien starten die Proben. Heuer zeigen die Tocca-Darsteller das Stück «Auftritt», geschrieben und konzipiert von Dietrich-Niggli. Dem Ensemble gehört auch eine Handvoll Personen ohne Einschränkungen an, unter anderem Dietrich-Nigglis Tochter Simone Altermatt-Dietrich als Hauptdarstellerin und Regieassistentin. Die Vorstellungen von «Auftritt» finden morgen Freitag und übermorgen Samstag jeweils um 19.30 Uhr im Kulturzentrum Schützi statt.

Frau Dietrich-Niggli, was veranlasste Sie damals zur Gründung der Theatergruppe «Tocca»?

Esther Dietrich-Niggli: Ganz selbstlos erfolgte die Gründung nicht (schmunzelt). Ich mache sehr gerne Theater. Das Wichtigste für mich ist aber, dass es sich dabei um Leute handelt, die sonst keine Bühne haben im Leben. Sie können viel weniger auswählen als wir. Sie können keinen Beruf auswählen und sich auch sonst viel weniger selbstständig bewegen als wir. Sie werden oft übersehen. Darum ist das eine Bühne, auf der man sie mal anschaut. Das ist der Hauptgrund.

Ihre Theatergruppe heisst «Tocca», Italienisch für «Berühre». Die Bedeutung dürfte bewusst mehrschichtig sein.

Ja, das ist sie. «Tocca» haben wir gewählt, weil bei der ersten Aufführung mit dieser Gruppe viele Laiendarsteller hinterher sagten, das habe sie so sehr berührt, dass sie Tränen weinten. Auch einige Zuschauer sagten, es habe sie berührt. Das Berühren hat damit zu tun, dass diese Leute so authentisch auftreten. Sie können sich nicht gleich stark in eine Rolle hineinbegeben wie ein sogenannt «normaler» Mensch. Sie sind immer ein Stück weit sie selbst. Manchmal verändern sie das Stück – auf ihre Art. Das macht «Tocca» aus. Es ist sehr echt, oft auch ein wenig improvisiert.

Welche Schwierigkeiten ergeben sich für Sie als Regisseurin bei der Umsetzung der Stücke?

Ich kann nicht so viele Proben machen wie bei einem üblichen Laientheater. Die Leute haben dafür zu wenig Energie. So üben wir bloss einmal pro Woche. Es gilt immer auf die Kräfte zu achten.

Aber Sie fordern schon eine schauspielerische Leistung ein?

Durchaus, ja. Viele aus dieser Gruppe sind schon lange dabei, und ich denke, sie haben ziemlich grosse Fortschritte erzielt im schauspielerischen Bereich. Sie trauen sich inzwischen auch mehr zu. Vor Jahren stiess ein junger Schauspieler zur Gruppe und erzählte mir, dass er Mundharmonika spiele. Doch damit auftreten wollte er nicht. Heute ist es für ihn etwas vom Wichtigsten, dass er Mundharmonika spielen kann bei den Auftritten. Anfänglich war er sogar zu scheu, um mal vorzuspielen. Auch hatte ich schon Leute dabei, die zu Beginn gar nicht reden wollten, vielleicht nur getanzt haben. Von denen habe ich beim nächsten Mal gefordert, dass sie etwas sagen sollten. Und sie schafften das!

Für Sie müssen diese Fortschritte eine besondere Freude sein.

Auf jeden Fall. Ich versuche auch ganz bewusst immer wieder neue Herausforderungen zu stellen. Meinem kognitiv schwächsten Schauspieler – einer mit Trisomie 21 und starker Mimik – versuche ich neue Worte mitzugeben. Aber man darf nicht allzu viel erwarten. Ob er die dann wirklich sagt an den Vorstellungen oder nicht, kann ich nicht versprechen.

Gab es schon Situationen, in denen Sie den Bettel am liebsten hingeschmissen hätten?

Es gab diese Momente immer wieder. Auch in diesem Jahr. Letzthin fiel nach einem Unfall kurzfristig unser Pianist aus. Ich musste eine Lösung suchen. Nun übernimmt der Komponist, der eigentlich Gitarrist ist, das Piano. Er muss noch ziemlich viel üben, bis er diese Stücke alle beherrscht. Er hat sie zwar komponiert, aber für ihn sind sie auf dem Piano schwierig umzusetzen. Auch vor drei Jahren gab es einen solchen Moment: Eine Szene missriet mir völlig. Ich überlegte mir, ob ich diese Szene ganz weglassen solle. Aber dann hätten manche Darsteller gar keine Rolle mehr gehabt. Also entschied ich mich kurzfristig, selbst mitzuspielen und vermied dadurch, dass die Szene durchhing.

Das neue Stück heisst schlicht «Auftritt». Was darf das Publikum erwarten?

Es geht in diesem Stück um Auftritte auf der Bühne, um Auftritte im Leben. Diejenigen Leute, die hierbei mitmachen, haben bestimmt weniger solcher Auftritte als die «Normalen». Gemeint ist zum Beispiel ein Bewerbungsgespräch oder ein Gespräch mit dem Chef. Es geht bei «Auftritt» um ein Theater im Theater – und eben darum, diesen Leuten einen solchen Auftritt zu verschaffen. Die Regisseurin im Stück nimmt Leute im Ensemble auf, unabhängig von der Erfahrung oder Ausbildung, und gibt ihnen diese Bühne. Das Stück beinhaltet zudem eine kleine Geschichte einer Tochter, die kurz vor dem Masterabschluss steht und die familieneigene Firma übernehmen soll, dann aber sagt, sie gehe Theater spielen zu dieser Regisseurin, das sei ihre Bestimmung. Das Stück fragt auch: «Was ist eine Karriere?» Ist eine Karriere immer das grosse Geld und der grosse öffentliche Auftritt, oder ist Karriere etwas, das man auch anders ausleben kann?

Sie haben das Stück selbst geschrieben. War das bereits in der Vergangenheit jeweils der Fall?

Ja. Ich schneidere diese Stücke stets ein wenig den Leuten auf den Leib. Manchmal schreibe ich sie um, wenn jemand eine ganz bestimmte Rolle wünscht. Diese Stücke sind natürlich nicht ganz so umfangreich wie ein normales Laientheaterstück. Es hat weniger Texte. Gerade auch im Stück «Auftritt» kommt das Stille spezifisch zum Zug, es hat gar eine Stummszene drin. Ich möchte damit zeigen, dass man nicht immer laut sein und mit der Stimme auf sich aufmerksam machen muss. Man kann auch stumm zur Musik etwas spielen.

Involviert ist Ihre Tochter als Regieassistentin und Hauptdarstellerin. Auch Ihr Sohn spielt mit. Werden sie Tocca dereinst weiterführen?

Eigentlich ist es mein Traum beziehungsweise mein Anliegen, dass meine Tochter das weiterführt. Im nächsten Stück möchte ich nur noch im Hintergrund wirken und meine Tochter die Regie führen lassen. Darüber informiert habe ich sie aber noch nicht (lacht). Im Hintergrund möchte ich gerne im organisatorischen Bereich noch wirken und auch das Stück wieder schreiben. Meiner Tochter liegt sehr viel an diesem Theater, sie ist schon lange dabei und findet es immer wieder eine schöne Sache. Auch die Proben findet sie immer speziell. Manchmal lacht man mittendrin einfach los – das ist jeweils total ansteckend.

www.tocca.ch

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