«Heute sind sie hibbeliger»

Rosmarie Grünig Seit 45 Jahren unterrichtet sie Ballett, seit mehr als 40 Jahren im Dance Studio Olten. Anfang Mai findet aus diesem Anlass in Trimbach eine Jubiläumsaufführung statt. Ans Aufhören denkt Rosmarie Grünig noch lange nicht.

Rosmarie Grünig beim Proben des Schneeflockentanzes inmitten ihrer Schützlinge. (Bild: Marc Flury)

Frau Grünig, gestatten Sie mir zu Beginn eine uncharmante Frage: Wie alt sind Sie?

Rosmarie Grünig: (lacht). Sagt man das heute als Frau? Für mich ist die Antwort kein Problem: Ich bin 65-jährig.

Und noch immer unterrichten Sie Ballett?

Ja, mit Leib und Seele. Wer einen künstlerischen Beruf ausübt und eine passionierte Person ist, kann nicht einfach damit aufhören. Mein Beruf ist meine Leidenschaft. Er bereichert mich. Und ich möchte das Wissen, das ich mir über 45 Jahre angeeignet habe, weitergeben und vor allem auch weiterhin künstlerisch tätig sein, etwa mit Aufführungen.

Aufhören ist also kein Thema?

Das ist kein Thema, nein.

Fällt Ihnen das Unterrichten körperlich noch immer leicht?

Die Gelenke bereiten gewisse Probleme. Aber diese Schwierigkeiten haben schon früh angefangen. Ich kann mit ihnen sehr gut leben. Ich muss ja nicht mehr ausgefallene Sprünge zeigen.

Grundsätzlich scheinen Sie in sehr guter körperlicher Verfassung zu sein.

Ich habe sicher keine Schwierigkeiten mit der Fitness und leide auch nicht an einer der häufigen Gesellschaftskrankheiten. Sicher bin ich viel beweglicher und fitter als andere in meinem Alter. Aber eben: Meine Knie- und Hüftgelenke sind dafür stärker abgenutzt. Beim Unterrichten helfen mir die Erfahrung und mein Wissensrucksack. Ich erkenne mit einem Blick, warum eine Bewegung nicht funktioniert. Dadurch kann ich schnell und effizient eine Korrektur oder eine Übung geben, die zum Ziel führt.

Sie unterrichten seit 45 Jahren Ballett, seit 42 Jahren im Dance Studio Olten, haben also Generationen von Tänzerinnen geprägt.

Genau. Meine Schülerinnen stossen meist im Alter von vier Jahren zu mir und bleiben dann oft bis zum Ablegen der Matura oder bis zum Lehrabschluss. Viele sind sehr treu. Aktuell habe ich auch viele Studentinnen, alles langjährige Schülerinnen. Seitdem ich 2004 mit der Royal Academy of Dance begonnen habe, setze ich voll aufs klassische Ballett. Und seither ist es mir gelungen, aus vielen Schülerinnen professionelle Tänzerinnen zu machen. Oder sie streben einen Beruf als Pädagogin an. Tatsächlich ist es so, dass ich ganz viele Generationen von Tänzerinnen herausgebracht habe. Viele Ehemalige schicken auch wieder ihre Kinder zu mir in den Unterricht. Das freut mich sehr!

Handelt es sich ausschliesslich um Mädchen? Oder gibt es auch Ballettschüler?

Hin und wieder kommen auch Buben in den Ballettunterricht. Bei unserer nächsten Aufführung macht sogar ein junger Mann mit. Ein 18-Jähriger, der eine Lehre als Landschaftsgärtner macht. Er hatte gemeinsam mit seinem Bruder mit dem Tanzen begonnen. Kommt ein einzelner Bub zu mir in den Unterricht, bleibt der nie lange. Die werden oft ausgelacht und gehänselt. Das ist traurig! Aber ich freue mich, dass jetzt ein junger Mann bei der Aufführung mittanzt.

Wenn Sie Ihre Anfänge um 1980 mit der heutigen Zeit vergleichen: Was sind die markantesten Unterschiede?

Früher waren die Kinder konzentrierter. Heute sind sie hibbeliger, nervöser. Die Konzentration hat stark nachgelassen. Wirklich stark. Und heute haben die Kinder meist viele verschiedene Hobbys. Aber irgendwann müssen sie eine Entscheidung treffen: Wenn sie im Ballett gut werden wollen, müssen sie den Unterricht mehrmals wöchentlich besuchen. Wer ein vorprofessionelles Niveau erreichen will, muss sicher dreimal den Unterricht besuchen, angehende Tänzerinnen sogar jeden Tag.

Sie arbeiten heute also unter erschwerten Bedingungen?

Was die Konzentrationsfähigkeit anbelangt, ist das so. Andererseits: Sind gewisse Kinder wirklich fokussiert, sind die Eltern heutzutage eher bereit, drei oder vier Ballettlektionen und vielleicht zusätzlich noch eine Contemporary-Lektion zu bezahlen. Die Bereitschaft, Geld auszugeben und in die eigenen Kinder zu investieren, ist heute eher vorhanden. Das hängt vielleicht auch damit zusammen, dass man in der Schweiz inzwischen Tanz studieren oder eine Lehre als Bühnentänzerin machen kann. So besteht die Perspektive auf eine berufliche Zukunft. Die Entwicklung, dass mehr Schülerinnen eine Profikarriere anstreben, nahm ungefähr 2010 ihren Anfang. Der nationale Verband «Danse Suisse» hat diese Ausbildungsmöglichkeiten damals lanciert.

Wenn man selbst jung ist, entspricht die Lebenswelt der Schülerinnen viel mehr der eigenen, als wenn man 65 ist. Fällt es Ihnen immer noch leicht, den Zugang zu Ihren Schülerinnen zu finden?

Durchaus. Ich bin heute viel enger mit meinen Schülerinnen, weil sie den Unterricht öfter besuchen als damals. Und wenn sie mal 18 geworden sind, wird das Verhältnis wieder sehr schön. Dann sind sie reif. Mit den Teenagern ist oft eine sehr schwierige Zeit – wegen der hormonellen Veränderungen. Es ist ohnehin eine riesige Herausforderung, ein Kind oder eine Jugendliche vorprofessionell auszubilden. Auf die prasseln derart viele Anforderungen ein. Sie müssten enorm fokussiert sein. Aber das sind sie eben oft nicht in diesem Alter, weil Probleme von aussen ablenken: der erste Liebeskummer, Streitereien mit der Freundin, Social Media.

Die schwierige Zeit der Pubertät.

Sie beginnen sich gegen Autoritäten aufzulehnen. Gegen die Eltern. Aber sie machen auch nicht mehr unbedingt das, was die Ballettlehrerin vorgibt… Sie müssen bei mir zum Beispiel Tagebuch führen und ihre Fortschritte dokumentieren. Das ist dann meist nicht so beliebt (lacht). Aber wenn sie Tänzerinnen werden wollen, müssen sie mich als Lehrerin und als Person akzeptieren. Sonst müssen sie woanders hingehen.

In den vergangenen 45 Jahren gab es auch eine enorme technische Entwicklung. Wie gingen Sie damit um?

Ich war immer sehr interessiert, was zeitgenössisch abläuft. Im medizinischen, sportmedizinischen Bereich etwa. Ich habe auch immer Weiterbildungen absolviert. Und ich bin mit der ganzen Welt verknüpft. In die Weiterbildung investiere ich neben dem Unterricht am meisten Zeit. Besonderen Wert habe ich immer auf die Schaffung eines sauberen Fundamentes gelegt. Der Weg ist das Ziel. Niemand wird über Nacht zur Tänzerin. Es ist ein langer Prozess. Mir ist der gesunde Unterricht das Allerwichtigste: Ich möchte, dass meine Tänzerinnen nach der Ausbildung auch noch tanzen können und nicht verletzungsbedingt aufgeben müssen. Manche Lehrerinnen verlangen von den Kindern zu früh zu viel, überlasten die Kinder. Ich arbeite altersgerecht. Durch meine pädagogische und vor allem meine medizinische Ausbildung weiss ich: Weniger ist mehr – dafür kontinuierlich. Ich habe immer enorm stark darauf geachtet, auf dem neuesten Stand zu sein.

Dieses Zusatzwissen können Sie gewinnbringend einsetzen?

Absolut. Heute wird effizienter trainiert. Und die Anforderungen sind massiv gestiegen. Früher reichten zum Beispiel zwei Pirouetten. Heute muss man mindestens drei beherrschen. Mit der richtigen Ernährung, dem Mentaltraining, all den Zusatzangeboten sind die Tänzerinnen viel besser geworden. Nach wie vor ein Problem ist die Erholung.

Ihr 45-Jahr-Jubiläum feiern Sie am 5. Mai mit einer Aufführung im Mühlemattsaal Trimbach. Was darf das Publikum erwarten?

Es wird eine fulminante Aufführung werden, die das gesamte Spektrum von der ganz jungen bis zur vorprofessionellen Tänzerin abdeckt. Es werden viele verschiedene Tänze geboten, sogar Contemporary mit Ursula Berger ist dabei. Viele Farben, viel wechselndes Licht. Ein künstlerisches Projekt auf breiter Ebene mit ganz vielen Facetten.

Das Publikum wird also auf seine Kosten kommen?

Auf jeden Fall. Die Vorführung dauert insgesamt zwei Stunden, die Tanzpräsentation anderthalb Stunden. Im zweiten Teil tanzen die Vorprofessionellen auf einem sehr, sehr hohen Niveau.

www.dancestudio-olten.ch

 

Zur Person

Rosmarie Grünig arbeitet seit 45 Jahren als Ballettpädagogin. Neben ihrer Ausbildung zur professionellen Tänzerin und Ballettpädagogin RAD RTS hat sie diverse weitere Aus- oder Weiterbildungen absolviert, etwa in Geburtsvorbereitung und Schwangerschaftsgymnastik, als diplomierte medizinische Masseurin oder in den Bereichen Mentaltraining und Ernährung. Eine weitere will sie bald in Angriff nehmen. Seit 20 Jahren unterrichtet sie nach den Lehrplänen der Royal Academy of Dance. Die Mutter eines 21-jährigen Sohnes wohnt mit ihrem Mann in Wangen bei Olten. agu

 

«Die Jahreszeiten» und «Cinderella und ihre Schwestern»

Doppelaufführung Am 5. Mai um 11 und 16 Uhr finden im Mühlemattsaal Trimbach zwei Aufführungen der Ballettabteilung und zweier Contemporary-Klassen des Dance Studio Olten statt. Rund 100 Tänzerinnen und Tänzer bringen klassisches und zeitgenössisches Ballett sowie zeitgenössischen Tanz (Ursula Berger) auf die Bühne. Die Ballettproduktion wird in einem professionellen Rahmen in zwei Teilen präsentiert: Im ersten Teil werden «Die Jahreszeiten» mit ihren sich wandelnden Farben, Stimmungen und Symbolen dargestellt. Im zweiten Teil präsentieren die vorprofessionellen Tänzerinnen der Company Blossom «Cinderella und ihre Schwestern». Im zeitgenössischen Ballett wird die Märchenfigur Aschenputtel mit Poesie, Witz und einem Hauch Magie in die heutige Zeit versetzt. pd/sar

 

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