«Es musste einfach sein»

Ukraine-Krieg Das Schicksal der Menschen in der Ukraine bewegt. Viele wollen helfen. OT-Fotograf Bruno Kissling hat es getan.

Bruno Kissling (ganz links) mit der in die Schweiz gebrachten ukrainischen Familie und deren Hund sowie sein Mitfahrer Samuel Hasler nach der Rückkehr am Mittwochabend in Egerkingen. (Bild: ZVG)

Bruno Kissling (ganz links) mit der in die Schweiz gebrachten ukrainischen Familie und deren Hund sowie sein Mitfahrer Samuel Hasler nach der Rückkehr am Mittwochabend in Egerkingen. (Bild: ZVG)

Beim Ausladen der mitgebrachten Hilfsgüter im ostpolnischen Przemysl. (Bild: ZVG)

Beim Ausladen der mitgebrachten Hilfsgüter im ostpolnischen Przemysl. (Bild: ZVG)

Szene im Auffanglager für die ukrainischen Flüchtlinge in Polen. (Bild: BKO)

Szene im Auffanglager für die ukrainischen Flüchtlinge in Polen. (Bild: BKO)

Am Montag vor einer Woche, anderthalb Wochen nach Kriegsausbruch in der Ukraine, machten Sie sich auf, um an der ukrainisch-polnischen Grenze Flüchtlinge abzuholen…

Bruno Kissling: …ja, am Montagnachmittag fuhr ich nach längerer Planung los.

Es war also kein spontaner Entscheid?

Nein. Gleich nach Kriegsanfang habe ich mir gesagt: Da muss ich etwas tun. Spenden war diesmal für mich keine Option. Ich habe einen alten VW-Bus mit neun Plätzen, damit lässt sich helfen: zuerst Hilfsgüter liefern und danach Leute in die Schweiz mitnehmen. Schnell stand für mich fest, dass es nach Polen gehen sollte. In einer Facebookgruppe machte ich einen Aufruf und suchte nach einer ukrainischen Familie, die von meinem Angebot Gebrauch machen wollte, mit mir in die Schweiz ausreisen zu können. Nach kurzer Zeit gab es verschiedene Rückmeldungen. Zudem brauchte ich für die rund 15-stündige Fahrt an die polnische Ostgrenze einen Mitfahrer, um sich beim Fahren abwechseln zu können. Vorerst konkretisierte sich nichts, es war ein stetiges Auf und Ab. Pläne wurden geschmiedet, ehe sie sich wieder zerschlugen. Am Montagmorgen vermittelte mir dann der Freund einer Ukrainerin aus Egerkingen einen Mitfahrer. Ab da dauerte es noch sechs Stunden bis zur Abfahrt.

Zu diesem Zeitpunkt stand fest, wen Sie in Polen abholen würden?

Ich hatte Kontakt zu einer Mutter mit drei Kindern sowie zu einer Mutter mit einem Baby und deren Mutter. Der VW-Bus verfügt über neun Plätze. Das hätte also super gepasst. Wir deckten uns vor der Abfahrt noch mit Hilfsgütern ein, unter anderem auch mit von anderen Helfern finanziertem Tierfutter. Nach dem Organisieren letzter Kindersitze fuhren wir um 16 Uhr los. Im Vorfeld hatte ich Kontakt gehabt mit Leuten, die ähnliche Aktionen auch schon unternommen hatten. Sie sagten mir: «Es herrscht Krieg. Es ist nicht sicher, dass es so klappen wird, wie du möchtest.» Doch das war mir egal. Es musste einfach sein.

Die ukrainischen Flüchtlinge dürfen derzeit gratis per Bahn in ein europäisches Zielland fahren und dort ein Aufnahmegesuch stellen. Warum war es Ihnen so wichtig, selbst einen Beitrag zu leisten?

Schon mit dem Hinbringen von Hilfsgütern sah ich eine halbe Mission erfüllt. Die andere Hälfte der Mission war das Evakuieren einer Familie – unter angenehmeren Bedingungen, als das im Zug möglich wäre. In diesem Auffanglager in Przemysl in Ostpolen, wo wir hinfuhren, wurden die Flüchtlinge medizinisch versorgt, konnten mal wieder schlafen, wurden mit Windeln und dergleichen ausgestattet. Viele Flüchtlinge dort haben eine tagelange Flucht aus der Ukraine hinter sich, haben teilweise lange nichts mehr getrunken und gegessen. Daher fand ich einfach, dass es für eine Familie bedeutend angenehmer wäre, sich in einem Auto mal zurücklehnen und bei Bedarf eine Pause für das Baby einlegen zu können. Auf dem Rückweg reservierte ich für alle Hotelzimmer, um mal wieder duschen, richtig schlafen und ausreichend frühstücken zu können. Das tat allen gut!

Wie trafen Sie auf die Familien, mit der Sie Kontakt aufgenommen hatten?

Zuerst leerten wir unser Auto beim Auffanglager, verteilten Kleider, Lebensmittel, Batterien, Windeln oder Powerbanks. Letztere sind sehr hilfreich für die Flüchtlinge, um ihre Handys aufzuladen und in Kontakt mit Angehörigen oder Helfern bleiben zu können. Nachdem unser Fahrzeug leer war, suchten wir die Familie mit dem Baby auf. Diese fanden wir relativ problemlos. Allerdings war dann nicht mehr bloss eine junge Frau mit Baby und ihrer Mutter da, sondern auch noch ihre Schwiegermutter. Nun wären wir also für unseren VW-Bus eine Person zu viel gewesen. Die andere Familie aber, die Mutter mit ihren drei Kindern, war rund 300 Kilometer nördlich über die Grenze gelangt, an einem ganz anderen Ort als geplant. Schweren Herzens, aus Zeitgründen und wegen des fehlenden Platzes, entschieden wir uns, die Heimreise ohne diese Mutter mit ihren Kindern anzutreten. Ich konnte aber organisieren, dass Helfer einer Facebook-Gruppe mit ihr Kontakt aufnehmen und weiter behilflich sein konnten. Und der Versuch, auf die Schnelle noch jemanden zu finden für die freien drei Plätze im VW-Bus, schlug so kurzfristig leider fehl.

Dann fuhren Sie wieder los und trafen am Mittwoch zuhause ein. Wo ist die ukrainische Familie jetzt?

Am Mittwochabend trafen wir in Egerkingen ein und konnten die Familie an den Freund der Schwiegermutter aus der Westschweiz übergeben. Bereits am nächsten Tag liess sie sich auf der Gemeinde registrieren.

Welche Szenen an der polnisch-ukrainischen Grenze haben sich besonders eingeprägt?

Wir waren letztlich nur drei Stunden vor Ort. Es herrschte kein absolutes Chaos. Eindrücklich waren die grossen Menschenmassen, die dort ständig mit Cars ankommen und von den Polen und Helfern der Hilfswerke in Empfang genommen, beherbergt und weitergeleitet werden. An jenem Tag, als wir da waren, sollen weit über 100000 Personen aus der Ukraine in Polen angekommen sein.

Sie haben bestimmt einige Reaktionen auf Ihre Hilfsaktion erhalten.

Schon während der Fahrt nach Polen machte ich Einträge auf meiner Facebookseite. Die Solidarität in der Schweiz ist unglaublich. Ich bekam spontane Geldüberweisungen von Privaten oder Behörden, Material für die Familie wurde in Aussicht gestellt. Es ist möglich, dass ich nochmals nach Polen fahre und jemanden in die Schweiz hole. Klar, es ist keine Wellnessübung, dafür etwas fürs Herz. Und es ist natürlich nur ein Tropfen auf den heissen Stein. Aber solche Tropfen helfen jetzt.

 

Zur Person

Der 54-jährige Bruno Kissling ist in Olten aufgewachsen, wohnt aber mit seiner Familie schon seit über 20 Jahren in Hägendorf. Er ist verheiratet und Vater dreier Kinder. Seit mehr als 30 Jahren ist er als Fotoreporter für das Oltner Tagblatt in der Region unterwegs. (agu)

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