«Zum Glück hatte ich einen guten Kopf»
Unvergessen Sie ist eine von derzeit gut 40 über 100-jährigen Personen im Kanton Solothurn. Am 18. Juli konnte die Lostorferin Rosa Ulrich-Freudiger, auch bekannt als «Mollet Rösi», ihr besonderes Wiegenfest feiern. Sie wirtete ab 1945 35 Jahre lang im Restaurant Kreuz – meist ganz alleine.
Rosa Freudiger wurde 1922 in Egerkingen geboren. Ihr Vater führte einen Schweinemastbetrieb, die Mutter war Hausfrau. Rosa war das vierte von sechs Geschwistern. Als sie noch nicht zehnjährig war, zog die Familie nach Lostorf um, wo der Vater wiederum einen Landwirtschaftsbetrieb führte. Die Kinder mussten früh anpacken in Hof und Haushalt. In ihrer Freizeit sang Rosa in einem Jugendchor. Nach sechs Jahren Primarschule besuchte sie zwei Jahre die Bezirksschule, ehe sie die Arbeit auf dem elterlichen Betrieb aufnahm. Ihr späterer Mann Hans Mollet, 16 Jahre älter als sie, stattete ihrem Vater nach Feierabend oft einen Besuch ab. Die beiden Landwirte waren fast Nachbarn. Als Rosa Freudiger 23 Jahre alt war, heiratete sie Hans Mollet – und wurde so quasi über Nacht zur «Kreuz»-Wirtin in Lostorf.
«1945, unmittelbar nach der Heirat, begann ich als Wirtin im Restaurant Kreuz zu arbeiten. Mein Mann führte daneben im selben Haus einen Bauernbetrieb. Er trank gerne mal eins über den Durst. Die Beiz führte vor allem ich. Er besorgte den Stall, führte den Bauernhof. Und eben: Er sass auch gerne und oft in der Beiz, diskutierte oder jasste. Für mich war es eine strenge Zeit, oft war es ein Krampf.
Aber es war auch eine schöne Zeit. In der Beiz stand ein Wurlitzer, mit dem wir oft Musik abspielten, manchmal dazu sogar das Tanzbein schwangen. Am Sonntag wurde viel gejasst, oft begann das bereits um 13 Uhr. Es kam vor, dass an drei oder vier Tischen gleichzeitig gejasst wurde. Unter der Woche kamen manche Stammgäste auch abends zum Jassen. Am Mittwoch war bei uns Ruhetag, sonst war immer geöffnet. Ich öffnete das Lokal, nachdem die Kinder in die Schule gegangen waren. War am Abend niemand mehr in der Beiz, konnte ich auch mal schon um 22.30 Uhr schliessen. Offiziell geschlossen war ab 23.30 Uhr. Immer mal wieder kam es vor, dass der Polizist Leuten eine Busse erteilte, die ‹überhockten›, also über die Sperrstunde hinaus im Lokal blieben.
Ich erlebte ohnehin so einiges über die Jahre. Einmal kamen Gäste ins «Kreuz», die zuvor in einem anderen Dorfrestaurant gewesen waren. Einer von ihnen prahlte herum – bis ich ihm auf den Mund schlug. Das hat ihm nicht gut getan… Er konnte sich gar nicht mehr wehren. Ein anderes Mal warf meine Servicekraft einem Gast, der sie beleidigt hatte, ein Glas Bier ins Gesicht. Aber meistens ging es friedlich zu und her. Oft wurde gejasst. Fehlte eine Person in der Runde, machte ich mit.
Hochbetrieb herrschte jeweils, als wir eine Metzgete veranstalteten. Meist war ich ganz alleine im Restaurantbetrieb, mein Mann unterstützte mich nicht gross. Gekocht habe ich immer selber. Hin und wieder unterstützte mich aber eine Serviertochter. Ich hatte im Bucheggberg ein Hauswirtschaftsjahr gemacht. Schon damals sagte die Meisterfrau zu mir, ich hätte ja gar nicht zu kommen brauchen, ich könne ja bereits kochen und wisse auch über alles andere bestens Bescheid.
1946 kam Käthi zur Welt, 1947 Fritz, 1949 Hansruedi und 1951 Annelies. Ganz besonders streng war es zu Beginn, als ich mich auch noch um die Schwiegereltern kümmern und ihnen das Essen ans Bett bringen musste. Die waren beide gesundheitlich angeschlagen. Sie starben 1948 innert weniger Tage. Vater Mollet war reformiert, die Mutter – eine geborene Guldimann – katholisch. Bei der Beerdigung durfte man beim Schwiegervater nicht in die Kirche hineingehen, er wurde bloss draussen verabschiedet. Bei der Schwiegermutter konnte man ins Innere der Kirche gehen. Die Reformierten durften zu jener Zeit die katholische Kirche noch nicht betreten.
Das «Kreuz» war zu jener Zeit die Beiz der Freisinnigen. Immer am Montag nach dem Gemeinderat kamen sie zu uns zum Jassen. Aber es besuchten uns auch andere Gäste. Neben dem Restaurant Kreuz gab es damals in Lostorf auch das Jura, die Sonne, das Central, das Rössli, die Eintracht, das Wartenfels und das Bad. Aber trotz der vielen Konkurrenz lief immer etwas. Mit dem Geld jedoch haperte es schon immer ein wenig. Doch irgendwie reichte es.
Manchmal frage ich mich heute, wie ich das alles geschafft habe. Ich musste immer dranbleiben. Zum Glück hatte ich einen guten Kopf. Freizeit hatte ich nicht viel. Ferien gab es nie. Mithelfen musste ich auch auf dem Bauernhof. Ich bin noch immer unschlüssig, was ich lieber gemacht habe: die Arbeit als Wirtin oder die als Bäuerin.
1961, nach 16 Jahren Ehe, starb mein Mann – mit 55 Jahren. Er hatte einen Blutsturz erlitten. Als ich eines Morgens aufstand, lag er hinter dem Buffet im Restaurant und war tot. Das war ein Schock, es war schlimm! Mit 39 Jahren war ich schon Witwe. Aber es musste ja weitergehen. Zu den Kindern schauten auch meine Eltern hin und wieder. Nach dem Tod meines Mannes führte unser Knecht den Bauernhof weiter, später dann Sohn Fritz.
Das Restaurant und der Bauernhof gehörten immer einer Erbengemeinschaft, nie mir. 1980 hatte ich genug. Auch heute denke ich mit gemischten Gefühlen an diese Zeit zurück. Sehr schön hatte ich es da nicht, weil ich von den beiden Brüdern des verstorbenen Mannes immer unter Druck gesetzt wurde, wenn ich den Hauszins nicht rechtzeitig bezahlen konnte.»
Anfang der 80er-Jahre heiratete sie Erwin Ulrich, mit dem sie bis zu dessen Tod während 25 Jahren verheiratet blieb. Sie führte den Haushalt und kümmerte sich regelmässig um die Enkel und später auch Urenkel. Leidenschaften von ihr sind und waren das Häkeln und das Jassen. Erst nach einem Sturz 2019 verliess Rosa Ulrich-Freudiger das Eigenheim in Lostorf. Seither lebt sie im Altersheim Schlossgarten in Niedergösgen. Mitte Juli konnte sie dort bei guter Gesundheit ihren 100. Geburtstag feiern.