«Wurde wieder zu einem richtigen Walliser»

Unvergessen Der Fotograf André Albrecht ist seit 50 Jahren in der Region Olten zuhause. Seine eigentliche Heimat aber ist das Wallis. Ein Atelier-Stipendium 2016 weckte bei ihm den Wunsch, dereinst zu seinen Wurzeln zurückzukehren.

Als Sohn einer Oberwalliser Arbeiterfamilie wurde André Albrecht im Sommer 1965 in Sierre (Siders) geboren; er hat eine um vier Jahre ältere Schwester. Der Vater arbeitete als Akkordmaurer, danach als Leitungsbauer und LKW- beziehungsweise Busfahrer, die Mutter im Detailhandel. Nach früher Kindheit in Sierre zog André als Bub einige Male um. Den Kindergarten besuchte er in der Stadt Luzern, die 1. Klasse in Brig, die 2. in Littau bei Luzern. Ab der 3. Klasse wohnte die Familie in Gunzgen. Seinem Wesen entsprechend fand er schnell Anschluss am neuen Wohnort, hoffte aber zu Beginn, bald ins Wallis zurückkehren zu können. Die schönsten Jugenderinnerungen verbindet er denn auch mit den Aufenthalten bei seiner Grossmutter mütterlicherseits, am Ortsrand von Brig, in unmittelbarer Nähe zu einem Campingplatz. Dort verbrachten er und seine Schwester sämtliche Ferien, insgesamt jeweils rund drei Monate pro Jahr. Erst zu Kantonsschulzeiten unternahm er auch mal Reisen woandershin. André Albrecht war ein überdurchschnittlich begabter, aber disziplinloser Schüler. Als erster Schüler überhaupt im Kanton Solothurn flog er kurz vor der Matura via Disziplinarverfahren von der Kanti; er hatte oft im Unterricht gefehlt und stattdessen unter anderem Zeit im Fotolabor der Kanti Olten verbracht. Seither verdient er seinen Lebensunterhalt hauptsächlich als Fotograf und Fotoreporter – viele Jahre mit eigenem Studio. Mit 20 Jahren zog er nach Olten, wo er noch immer wohnt. Das Wallis, seine eigentliche Heimat, rückte 2016 wieder stärker in seinen Fokus.

 

«2016 konnte ich einen Monat lang künstlerisch in meiner Heimatstadt Sierre tätig sein. Das Schloss Waldegg bei Solothurn pflegt eine Zusammenarbeit mit dem Schloss Mercier in Sierre. Ich bewarb mich für ein sogenanntes Atelier-Stipendium – und erhielt den Zuschlag. Das von mir eingereichte Projekt gefiel: jemand, der in Sierre geboren ist, jedoch seit sehr langer Zeit im Kanton Solothurn lebt und arbeitet, und sich nun wieder in der Heimat umsehen will. Inhaltlich war ich frei, ich konnte machen, was ich wollte.

Ich wohnte in der Villa Ruffieux unmittelbar neben dem Schloss Mercier. Dort lebte ich, kochte, ass und schlief. Nach Olten kehrte ich einen Monat lang nicht zurück. Mit Ferien hatte es nichts zu tun. Es war sehr arbeitsintensiv. Spätestens um sechs Uhr war ich meistens wach und streifte bald darauf mit der Kamera umher. Ich verfolgte in der Regel einen Plan; die Gegend kenne ich ja bestens. Ich musste Dutzende Male erzählen, dass ich dort geboren wurde. Das hatte den Nachteil, dass die Leute sofort Französisch zu sprechen begannen…Es entstand eine gelungene Arbeit, viele Leute freuten sich an den folgenden Ausstellungen und Vorträgen im Solothurnischen.

Für mich bedeutete das Projekt eine Rückkehr in die Heimat, dorthin, wo ich geboren worden war und wesentliche Momente meiner Jugend verbrachte hatte. Nicht nur eine physische Rückkehr, sondern auch eine mentale. Seither spielen die Stadt und das Wallis wieder eine ganz andere Rolle in meinem Leben. Nun überlege ich mir, in ein paar Jahren wieder dorthin zu ziehen. Vor jenem Aufenthalt war das für mich überhaupt kein Thema gewesen. Damals wurde ich wieder zu einem richtigen Walliser. Nun fahre ich wieder regelmässig dorthin, wohne in einem schönen Hotel in Sierre und geniesse das Bad im Gerundensee, einem wunderschönen kleinen See mitten in der Stadt. Es zieht mich immer stärker dorthin zurück. Halte ich mich nun in jener Gegend auf, schaue ich mich automatisch bereits nach möglichen Wohnorten für später um.

Erst kürzlich war ich wieder mal einen ganzen Tag im Wallis. In Sierre, im Pfynwald – und erstmals seit langem wieder auf dem Simplon. Dort, beim Hopschelsee, überliess ich 1995 die Asche meines Vaters dem Wind. Auch für mich ist jener See ein zentraler Ort meines Lebens – und es ist übrigens mein Wunsch, dereinst ebenfalls dort verstreut zu werden. Mein Vater war Arbeiter durch und durch und konnte dann mit Mitte 50 wegen eines schweren Rückenleidens nicht mehr arbeiten. Er wäre bald IV-Rentner geworden. Das ertrug er nicht. Er dachte, er falle allen nur noch zur Last. Da er keinen Ausweg mehr sah, setzte er seinem Leben in einem Wald bei Gunzgen ein Ende – so wie er es als Grenadier im Hochgebirge gelernt hatte. Er erschoss sich mit einem Karabiner. Zum Glück fand ihn kein Kind, sondern ein Polizist, der in der Freizeit im Wald unterwegs war. Mein Vater hatte einen Zeitpunkt abgewartet, als wir alle weg waren: Ich war mit der Freundin in den Ferien, meine Mutter weilte erstmals in ihrem Leben im Ausland in den Ferien, in Tunesien.

Schon Jahre zuvor hatte Papa gesagt, er möchte, dass er kremiert und seine Asche auf dem Simplon verstreut werde. Damals, vor fast 30 Jahren, war das im Wallis sehr problematisch. Schon nur das Kremieren: Das gab es eigentlich im Wallis zu jener Zeit noch nicht. Sein ältester Bruder, also mein Onkel, rief mich an und sagte, er erscheine nicht zur Abdankung, weil es sich ja nicht um eine richtige Beerdigung handle. Beim Verstreuen der Asche waren wir nur zu dritt beim See: meine Schwester, eine Cousine und ich. Mama hatte keine Kraft, dabei zu sein. Wir waren früher mit der Familie oft beim Hopschelsee oben gewesen, nun ist er sozusagen auch noch das Grab meines Vaters. Seither bedeutet er mir noch mehr als zuvor schon. Ein schöneres Grab kann man sich gar nicht vorstellen! Im Winter liegt der See monatelang unter einer Eis- und Schneeschicht.

Vor zwei Jahren, als ich während Corona am Boden lag, plagten mich in meiner ausweglos erscheinenden Situation ebenfalls Suizidgedanken. Die Erinnerung an den Abgang meines Papas halfen mir beim Weg zurück ins Leben, weil ich natürlich bestens wusste, welche Wirkung so ein Suizid auf die Hinterbliebenen hat. Ob man will oder nicht – als Hinterbliebener macht man sich Vorwürfe. Diese Überlegungen waren mitunter ein Grund dafür, dieses Schicksal niemandem anzutun.

In zwei Jahren werde ich 60. Da macht man sich schon gewisse Gedanken über die Zukunft. Anders als meine Eltern möchte ich dereinst nicht erst als Verstorbener wieder im Wallis landen. Auch meine Eltern wollten stets zurückkehren – wie eigentlich jeder Walliser in seinem Innersten. Ich werde künftig bestimmt wieder häufiger zum Hopschelsee gehen, aber auch zum Familiengrab in Brig. Da liegen unter anderem auch meine Mutter und die Grossmutter begraben.»

 

André Albrecht ist dabei, die dunkle Phase im Zuge der Corona-Pandemie hinter sich zu lassen. Derzeit ist er gerade mit der Auflösung seiner alten Firma, welche die Pandemie nicht überlebt hat, beschäftigt. Inzwischen ist es ihm gelungen, sich aufzuraffen und im Erwerbsleben wieder Fuss zu fassen. Albrecht ist unter anderem bekannt als Organisator des regelmässig stattfindenden «Photostream Olten», bei dem er anderen Fotografinnen und Fotografen seit zehn Jahren eine Plattform bietet.

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