«Wir konnten nur noch gewinnen»
Unvergessen Vor genau 30 Jahren schaffte der FC Aarau eine der grössten Sensationen, die der Schweizer Fussball je gesehen hat. Er wurde 1993 völlig überraschend Schweizer Meister – mit Rekordvorsprung. Mittendrin damals: der Fulenbacher Daniel Wyss. Der heute 53-Jährige erinnert sich an die Meistersaison.
Daniel Wyss wurde im März 1970 geboren. Er wuchs auf einem Bauernhof in Fulenbach als Nachzügler mit fünf Geschwistern auf, vier Schwestern und einem Bruder. Er erinnert sich an eine schöne Jugend. Mithilfe auf dem Bauernbetrieb war selbstverständlich. Er fand jedoch immer Zeit fürs «Tschutten». Bei frühester Gelegenheit trat er dem SC Fulenbach bei und durchlief dort sämtliche Juniorenstufen. Als 15-Jähriger kam das Sturmtalent bereits zu ersten Einsätzen im Fanionteam in der 3. Liga. Er zeichnete sich als regelmässiger Torschütze aus, wurde bald für die Kantonalauswahl und kurz darauf auch für eine Schweizer Jugendnationalmannschaft aufgeboten. Als er 16-jährig war, klopfte der damalige NLA-Klub Aarau bei ihm an und lotste Wyss aufs Brügglifeld. Trainer Ottmar Hitzfeld setzte den Jungspund einige Monate später erstmals ein. In einem Spiel gegen Bellinzona feierte er sein Debüt in der NLA. In den folgenden Jahren unter wechselnden Trainern wurde der Linksfüsser vorwiegend im linken oder defensiven Mittelfeld oder aber als Linksverteidiger eingesetzt. Ausser Goalie habe er aber wohl jede Position mal besetzt. Am Ende der Saison 1991/92 vermied der FCA den Abstieg einmal mehr nur hauchdünn. Doch bald sollte alles anders werden. Daniel Wyss erinnert sich.
«Im Sommer 1992 stiess mit Rolf Fringer ein neuer Trainer zum Team. Er brachte Roberto di Matteo und Mirko Pavlicevic mit, die er vom FC Schaffhausen her kannte. Ansonsten veränderte sich das Gesicht der Mannschaft, die einige Jahre lang immer bis zuletzt gegen den Abstieg kämpfen musste, kaum. Rolf Fringer gewann das Team rasch für sich. Er war zusammen mit Hitzfeld der beste Trainer, den ich je hatte. Rein fachlich war Fringer sogar der beste. Hitzfeld verstand es ausgezeichnet, durch seinen Umgang das Beste aus den Spielern herauszukitzeln. Fringer war ein absoluter Fussball-Fachmann, schulte uns taktisch hervorragend, konnte uns die richtigen Laufwege vermitteln. Mannschaftsintern hatte es schon vor Fringers Ankunft sehr gut harmoniert, das war in Aarau nie das Problem. Aber uns fehlte bis zu Fringer ein Trainer, der uns taktisch richtig eingestellt hätte.
Röbi di Matteo kannte bis dahin in der Schweiz kaum einer. Er kam aus Zürich nach Aarau und legte bei uns eine Riesensaison hin. Schnell war klar, dass er ein Superfussballer und zu Höherem berufen war. Ende Saison verliess er uns und wechselte zu Lazio Rom. Auch Mirko Pavlicevic hatte niemand auf dem Radar. Er stabilisierte unsere Abwehr ungemein. Ohnehin stellten wir schon nach zwei, drei Trainings fest: Da war viel Qualität zum Team gestossen. Mit den neuen Spielern entwickelte sich im Team auch eine Winnermentalität. Und eine gute Achse bestand ja schon mit Goalgetter Petar Aleksandrov, René Sutter, Bernd Kilian, Uwe Wassmer oder Andreas Hilfiker.
Schon in den Vorbereitungsspielen stimmten die Resultate. Wir spielten gut, merkten, dass Fringers Vorgaben funktionierten. Zudem herrschte ein gesunder Konkurrenzkampf. Es knallte auch mal unter der Woche im Training. Aber gleichwohl hatten wir Respekt voreinander, und am Wochenende im Match rannte jeder für den anderen, stopfte Löcher. Und Fringer weckte bei uns das Verständnis für Positionswechsel, verankerte in unseren Köpfen das Denken als Spielerpaare. Wir standen immer stabil, mussten nur wenige Gegentore einstecken. Eine Kanterniederlage kassierten wir im Gegensatz zur Vorsaison fast nie. Wir standen schnell hinter Fringer, weil wir merkten, dass wir nun endlich mal einen guten Trainer hatten, der uns weiterbrachte.
Es passte von Anfang an, auch zwischenmenschlich. Wir starteten als Abstiegskandidat Nummer 1 in die Saison. Doch wir konnten schnell Siege einfahren, fanden unser Spiel immer mehr, fühlten uns von Woche zu Woche besser und konnten auch unser Selbstvertrauen steigern. Plötzlich lag Aarau nicht mehr am Schwanz der Tabelle, sondern im Mittelfeld oder sogar im vorderen Bereich. Nach vier Jahren in der Auf-/Abstiegsrunde belegten wir in jener Saison zur Winterpause den 5. Platz und qualifizierten uns damit für die Finalrunde. Das war bereits ein Riesenerfolg.
Das Wintertrainingslager in Malaysia gab uns einen zusätzlichen Kick. Es schweisste uns noch mehr zusammen. Und man spürte: Jeder will mehr, jeder ist hungrig. Dass es sogar für den Meistertitel reichen würde, hätte zu jenem Zeitpunkt aber niemand geglaubt. Aber wir waren in der Finalrunde, konnten also nicht mehr absteigen und daher befreit aufspielen. Zu verlieren hatten wir nichts, wir konnten nur noch gewinnen. Das trug dazu bei, dass wir in einen richtigen Lauf gerieten. Fussballerisch waren wir keine Riesentruppe. Zwei, drei Spieler waren überdurchschnittlich, aber der Rest bestand aus durchschnittlichen Spielern. Aber: Jeder ging für den anderen durchs Feuer und kannte seine Aufgabe ganz genau.
Jedes Heimspiel in jener Finalrunde war ein Highlight. Von Heimspiel zu Heimspiel war die Hütte immer besser gefüllt. Es entstand eine Euphorie. Viele Spieler stammten aus der Region Aarau oder wohnten zumindest hier. Und wir waren sehr präsent in Stadt und Region. Nach jedem Heimspiel gingen wir zusammen essen, danach oft noch gemeinsam in den Ausgang. Das Umfeld freute sich richtiggehend auf die Heimspiele. Bei einem kleinen Verein wie Aarau vor 10000 Zuschauern spielen zu dürfen – das ist echt cool, unheimlich schön. Und plötzlich siegten wir sogar auswärts in Sion, wo wir zuvor nie auch nur ein Unentschieden geholt hatten. Wir marschierten durch die Finalrunde in einer Art und Weise, die uns niemand zugetraut hatte.
Plötzlich lagen wir an der Tabellenspitze, bauten unseren Vorsprung sogar aus – und realisierten, dass wirklich etwas Grosses drin liegen würde. Servette und YB waren damals unsere Hauptkonkurrenten. Den Grundstein dafür, es wirklich durchzuziehen, legten wir in der viertletzten Runde beim Auswärtsspiel in Bern gegen unseren Verfolger YB. Wir siegten 4:1. Hätten wir dort verloren, hätte es nochmals knapp werden können. Schon auf der Heimfahrt im Car feierten wir. Wir wussten: Nun müsste vieles schief laufen, damit es nicht zum Titel reichen würde.
Knapp zwei Wochen später bestritten wir am Samstag ein Heimspiel gegen Sion und gewannen dieses 2:1. Tags darauf fuhren wir im Car nach Zürich – mit unseren Partnerinnen und dem gesamten Staff. Im Letzigrund waren wir live dabei, als der FCZ Servette schlug und uns damit vorzeitig zum Meister machte. Eine Woche danach stieg dann zuhause die grosse Meisterfeier. Aber wir Spieler hatten die ganz grossen Emotionen in Zürich erlebt. Wenn man viermal in Folge den Abstieg nur knapp und mit Glück verhindern kann und dann plötzlich aus dem Nichts – mit einem Rekordvorsprung – erstmals nach fast 80 Jahren Schweizer Meister wird, werden riesige Emotionen freigesetzt. Die lassen sich kaum beschreiben. Die meisten von uns haben das nur einmal in ihrer Karriere erleben dürfen.
Einen Zusammenhalt wie in jener Saison habe ich nie zuvor und nie danach erlebt. Das war wirklich aussergewöhnlich. Für den FC Aarau war es ein Glücksfall, dass wir derart gut miteinander harmonierten. Und mit Fringer hatten wir einen Trainer, der fachlich top war. Aber am Ursprung des damaligen Erfolges stand unser Teamgeist. Noch heute treffen wir uns regelmässig. Das letzte Zusammentreffen kam zwar aus traurigem Anlass zustande, der Beerdigung unseres damaligen Präsidenten Ernst Lämmli. Doch die Mannschaft war komplett anwesend. Und anschliessend tranken wir zusammen ein Bier – und es war sofort wieder wie früher.»
Nach der Meistersaison blieb Wyss dem FCA noch drei Jahre treu, ehe er im Sommer 1996 zum FC Luzern wechselte. Im Laufe der Saison 1997/98 musste er aufgrund eines Hüftleidens seine Karriere im Alter von erst 27 Jahren als «Fussballinvalider» beenden. Er war zu jenem Zeitpunkt bereits verheiratet und eben Vater eines Sohnes geworden. Der gelernte Mechaniker konnte bald Fuss fassen in der Versicherungsbranche, holte das KV nach, machte einen Abschluss als Eidgenössischer Verkaufsleiter und arbeitete letztlich 14 Jahre als Generalagent. Seit zwei Jahren ist er selbständiger Versicherungsbroker in Olten. Dem Fussball ist er längst nur noch als «Fan» verbunden. Unmittelbar nach dem erzwungenen Rücktritt hatte er drei Jahre als Trainer beim FC Kölliken und ein halbes Jahr beim FC Olten gewirkt. Mit dem FC Aarau lebt er bis heute mit und sitzt regelmässig bei Heimspielen auf der Tribüne. Der 53-Jährige wohnt mit seiner Frau und dem jüngeren seiner beiden Söhne in Wangen bei Olten.