«Wir assen aus denselben Schüsseln wie die Schweine»

Unvergessen Raphael Fischer aus Starrkirch-Wil arbeitet als Lehrer an der Kanti Olten – und dürfte weit und breit der einzige Mensch sein, der sämtliche Länder der Welt bereist hat. Erlebt hat er dabei so manches. Im Frühjahr 2014 zum Beispiel stand er im Südseestaat Vanuatu auf einem der aktivsten Vulkane überhaupt und besuchte im Urwald die «Erfinder» des Bungee-Jumpings.

Abenteurer Raphael Fischer, wie das einheimische Stammesmitglied nur mit einer Namba bekleidet, im Dschungel von Tanna. (Bild: ZVG)

Abenteurer Raphael Fischer, wie das einheimische Stammesmitglied nur mit einer Namba bekleidet, im Dschungel von Tanna. (Bild: ZVG)

Die Land Divers sollen das Bungee-Jumping «erfunden» haben. (Bild: Raphael Fischer)

Die Land Divers sollen das Bungee-Jumping «erfunden» haben. (Bild: Raphael Fischer)

Der Vulkan Yasur auf Tanna ist seit Jahrhunderten aktiv. (Bild: Raphael Fischer)

Der Vulkan Yasur auf Tanna ist seit Jahrhunderten aktiv. (Bild: Raphael Fischer)

Raphael Fischer.

Raphael Fischer.

Raphael Fischer wurde 1986 geboren. Er wuchs mit einer Schwester in Starrkirch-Wil auf, wo er noch heute lebt. Unmittelbar vor der Einschulung unternahm er mit seiner Familie eine fünfmonatige Reise durch Südostasien. Die Reiselust war geweckt. Mit 18 ging er erstmals alleine auf Weltreise. Er besuchte Land um Land. Irgendwann begann er auf einer App einzutragen, in welchen Ländern er schon gewesen war. Das Ziel, sämtliche der rund 200 Länder der Erde mal besucht zu haben, verfolgte er erst zum Schluss, als auf der Weltkarte nur noch wenige «weisse Flecken» verblieben. Als Fischer schliesslich im Sommer 2021 im Kongo weilte, war auch der letzte «weisse Fleck» getilgt (siehe Frontartikel Stadtanzeiger Ausgabe 1, 2022). Aus den diversen Trips hat Fischer unzählige Erinnerungen mit nach Hause gebracht. Sehr schöne etwa von der zweiten Weltreise 2014, als er Halt machte im Pazifikstaat Vanuatu.

«Damals war ich rund anderthalb Jahre unterwegs. Ich hatte während einiger Monate Nord-, Zentral- und Südamerika bereist und war gerade eben in der Antarktis gewesen. Nun wollte ich nach Asien weiterreisen. Da entschloss ich mich spontan zu einem Stopp auf einer südpazifischen Insel. ‹Vanuatu› klang speziell, das lockte mich. Ich erinnere mich noch bestens an die Ankunft auf dem internationalen Airport der Hauptstadt Port Vila. Gates oder eine eigentliche Flughafeninfrastruktur gab es nicht. Auf der Rollbahn mitten im Dschungel wurde eine mobile Treppe mit drei Stufen zum Flugzeug geschoben, damit die Passagiere aussteigen konnten. Das wars. Daneben gab es bloss einen kleinen Schuppen, wo die Koffer hingebracht wurden. Jemand chauffierte mich dann in die Hauptstadt, deutete auf ein Gebäude mit vier Stockwerken und sagte voller Stolz: ‹Das ist das grösste Gebäude in ganz Vanuatu!›

Ich fand Unterschlupf in einem Guest House. Dort traf ich auf einen deutschen Backpacker. Der war völlig frustriert. Er sei seit drei Wochen da und müsse noch einige Wochen auf seinen Weiterflug warten, weil er den Flug nicht umbuchen könne. Die Umgebung von Port Vila sei sehr teuer – auf Vanuatu müssen fast alle Güter importiert werden – und biete nichts. Das kann ja wohl nicht wahr sein, dachte ich mir – und buchte kurzentschlossen einen Flug auf die Insel Tanna. Ich hatte gelesen, dass da ein aktiver Vulkan brodelt. Auf der Insel lernte ich sofort einen Volksstamm kennen. Der wollte ins Tourismusgeschäft einsteigen und hatte eine Baumhütte als Gästeunterkunft gebaut. Ich konnte da gratis übernachten, erhielt Führungen, musste aber im Gegenzug Ratschläge geben und einen kleinen Businessplan erstellen.

Auf Tanna besuchte ich wunderschöne, verlassene Strände und wanderte in einem langen Marsch zum Vulkan Yasur – einem der aktivsten Vulkane der Welt. Ich bestieg ihn alleine. Auf dem Kraterrand schaute ich 450 Meter in den Schlund hinab. Der Vulkan brach alle 40 Sekunden aus. Es bebte, donnerte, schüttelte – und zeigte, wie kraftvoll die Natur ist. Teilweise flogen die Lavaauswürfe über mich drüber. Ich musste aufpassen, nicht getroffen zu werden. Ein Einheimischer erzählte mir, dass er mal eine japanische Touristin vom Vulkan bergen musste, nachdem sie von einem Lavabrocken tödlich getroffen worden war. Ich nahm ein gewisses Risiko bewusst in Kauf, wusste, was schlimmstenfalls passieren konnte. Als die Eruptionen immer heftiger wurden, realisierte ich, dass die Zeit zum Aufbruch gekommen war. Bis heute sind diese Stunden alleine dort oben auf dem Kraterrand etwas vom Eindrücklichsten, was ich je gemacht habe.

Meine Gastgeber berichteten mir, dass es auf Tanna noch einige andere Stämme gebe. Ich wollte die besuchen. Wiederum wanderte ich stundenlang durch den Dschungel und traf schliesslich auf einen Stamm. Dort wurde ich zum Häuptling, zum Stammesältesten geleitet. Mit Händen und Füssen gab er mir zu verstehen, dass ich bei ihnen übernachten dürfe. Das ist einer der primitivsten Stämme der Welt. Die dortigen Menschen tragen bloss Strohbüschel, sogenannte Nambas, um ihr Gemächt. Westliche Produkte kennen sie nicht. Nicht mal das Feuerzeug war ihnen zum Beispiel bekannt. Ich wohnte einige Tage bei ihnen. Wir assen aus denselben Schüsseln wie die Schweine. Ausser einem Mann, der ganz wenig Englisch sprach, konnte ich mich nicht unterhalten. Dieser Mann fragte mich, ob ich auch mal eine Namba tragen wolle. Plötzlich näherte er sich mir von hinten, packte zu und legte mir die Namba an. Für ihn völlig normal, blieb mir die Handlung in Erinnerung, als sei sie gestern passiert…

Einmal boten sie mir Kava an, ein Getränk, gepresst aus den Wurzeln des Rauschpfeffers. Jener Stamm trinkt dieses narkotische Mittel täglich. Das Getränk lässt einen ruhiger werden, macht Lippen und Zunge gefühllos. Speziell bei diesem Stamm war: Das Getränk wurde auf traditionelle Art hergestellt. Das hiess: Die rund zwanzig 16-Jährigen des Stammes kauten die Kava-Pflanze und spien die Mischung aus Spucke und Saft in einen Kessel. Danach wurde das Getränk in einer Kokosnussschale angeboten. Ich konnte schlecht Nein sagen. Aber ein mulmiges Gefühl beschlich mich schon. Ich muss allerdings sagen: Hätte ich nicht gewusst, wie er produziert wurde, wäre es mein bester Kava überhaupt gewesen.

Ich setzte meine Reise fort, wollte nach Pentecost, einer anderen Insel Vanuatus. Ich wusste, dass dort die Land Divers heimisch sind. Das sind Angehörige jenes Volkes, das als Erfinder des modernen Bungee-Jumpings gilt. Als Dank für eine gute Ernte und wohl auch als Fruchtbarkeitsritual errichten sie einmal im Jahr einen bis zu 35 Meter hohen Turm aus Bambus und Lianen – ohne Nägel, Schrauben oder Seile. Buben und junge Männer springen dann herunter – gesichert durch zwei Lianenseile an den Füssen. Der Flug nach Pentecost hätte sehr viel gekostet. Ich ging also zum Hafen und lernte dort einen Captain eines Frachtschiffes kennen, das bald nach Pentecost auslief. Ich fragte ihn, ob ich mitfahren dürfe. Er sagte, er dürfe keine Touristen mitnehmen. Für ein paar Dollar Bestechungsgeld klappte es dann doch.

Auf diesem Schiff lernte ich ‹Maradona› kennen. Er war ebenfalls ein Land Diver und lud mich in sein Dorf ein. Der Turm im Dorf stand schon. Ich wurde gefragt, ob ich mir den Sprung auch zutrauen würde. In ihrem Dorf sei nie zuvor ein Weisser gesprungen. Ich war skeptisch, willigte aber ein, zumindest mal auf den Turm hochzuklettern. Dabei brachen Äste auseinander, oben schwankte es hin und her. Ich erbat Bedenkzeit, sagte, zuhause gebe es eine Familie, die mich vermissen würde, falls ich sterben würde. Zwei Tage später sagte ich zu. Sie freuten sich darüber und erklärten mir, sie würden ihre erfahrensten Leute losschicken, um die für mich passende Liane zu finden. Zwei 14-jährige Teenager zottelten los. Ich stand mit offenem Mund da und fragte: ‹Sind das wirklich jene, welche die Liane suchen?› ‹Ja, genau, das machen bei uns die Kinder.›

Bei der Rückkehr ins Dorf sagten die Beiden, sie hätten keine passende Liane gefunden. Das bedeutete, dass die Geister entschieden hatten, dass ich nicht würde springen können. Die Leute berichteten mir, dass in den Vorjahren immer mal wieder Personen gestorben seien beim Sprung – einmal sogar jemand vor den Augen von Queen Elizabeth II. bei deren Besuch vor Ort, weil die Liane nicht feucht genug gewesen und deshalb gerissen sei. Auch ‹Maradona› erzählte mir, dass sein Bruder beim Sprung vor seinen Augen umgekommen sei. Mir dämmerte, dass es ganz gut war, dass die Geister entschieden hatten, dass mir der Sprung vorenthalten bleiben würde. Ich wohnte der Zeremonie, bei der auch getanzt und gesungen wird, dann als Zuschauer bei. Gestorben ist damals niemand.

Das war mein Monat auf Vanuatu. Er hat sich in meiner Erinnerung stark eingebrannt, weil ich ohne jegliche Erwartungen in Port Vila angekommen war, dann aber sehr spontan und fast ohne Geld extrem eindrückliche Dinge zu sehen bekommen habe – die Stämme, den Vulkan, die Strände und das Land Diving. Und das alles auf sehr authentische Art, ohne andere Touristen. Die Menschen dort sind enorm friedlich und gehören wahrscheinlich zu den glücklichsten überhaupt. Sie sind sehr arm, sind aber sehr freigiebig. Ich wurde als Gast behandelt wie ein König. Und auch die Neugierde war enorm gross. Wenn wir etwas Neues entdecken wollen, reisen wir in ein anderes Land. Die Menschen in Vanuatu können das nicht. Die entdecken was Neues, wenn jemand zu ihnen kommt. Ich war für sie wie Reisen, ein Tor zu etwas Neuem.»

Die damalige Weltreise setzte Raphael Fischer in Sri Lanka, Indien und Nepal fort, ehe er via China und Russland in die Schweiz zurückkehrte. Heute berichtet der 36-Jährige gelegentlich in Vorträgen über seine diversen Expeditionen in ferne Länder. Er ist als Sportlehrer an der Kanti Olten tätig. Die baldigen Sommerferien will er «relativ unspektakulär» (Zitat) verbringen: zuerst vier Wochen surfen in Nicaragua und in der fünften und letzten Ferienwoche das Matterhorn besteigen.

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