«Wer bin ich und was kann ich?»

Hagar Jäggi ist überzeugt, dass das Leben einfach passiert. Ein Gespräch über das Menschsein, die Überwindung von Widrigkeiten und die Bedeutung ihres Vornamens.

«Jetzt kann ich wieder herzhaft lachen». Hagar Jäggi ist mit ihrer eigenen Reise fertig und wieder bei sich und in Trimbach angekommen. (Bild: ZVG)
«Jetzt kann ich wieder herzhaft lachen». Hagar Jäggi ist mit ihrer eigenen Reise fertig und wieder bei sich und in Trimbach angekommen. (Bild: ZVG)

Der Name «Hagar» ist hebräisch und bedeutet «die Fremde». «Hagar hört sich rau und männlich an. Auch ich musste im Leben meinen Mann stehen: Mich durchkämpfen, arbeiten, Geld verdienen, vier Kinder fast alleine grossziehen und dies ohne Prämienverbilligung», sagt die Trimbacherin Hagar Jäggi. Lange Zeit haderte sie deshalb mit ihrem Vornamen. Erst durch die Beschäftigung mit der arabischen Kultur habe ihr Vorname eine andere Bedeutung bekommen. «Hagar ist die einzige Frau, welche im Komplex der Kabaa in Mekka begraben ist, inmitten von Propheten. Ihr Grab ist das meistbesuchte der Welt.» Dies erkläre wohl ihre Affinität zu fremden Kulturen, lacht Jäggi. Ihr Vorname vermittle für sie heute eine mutmachende Botschaft: «Hagar steht für alle Frauen, welche erniedrigt und gedemütigt wurden im Leben. Sie gibt Hoffnung, Sicherheit und stärkt den Glauben in sich selbst.»

Jesiden und der IS

Jäggi ist überzeugt: «Das Leben ist einfach. Es passiert. Alle Lebensereignisse haben mich vorbereitet auf das, was jetzt ist.» Das Thema Migration und Flucht zieht sich wie ein roter Faden durch ihre Biografie. Im Jahr 2015 hat Jäggi zwei minderjährige jesidische Flüchtlingsjungen bei sich aufgenommen. «Jede Nacht hatte ich zwei weinende Jungen in den Armen, bis sie erschöpft einschliefen.» Tagsüber hätten die Kinder mit ihr oft Szenen von Hinrichtungen nachgespielt. Das Ziel sei, dem Grauen, das man gesehen oder erlebt habe, im Rollenspiel einen guten Schluss zu geben. «Du bist jetzt in Sicherheit. Das ist die wichtigste Botschaft.» Sie hätten auch viel zusammen gelacht, erinnert sich Jäggi und betont: «Lachen ist eine grosse Kraft. Ich bin ein Mensch, der aus jeder Situation das Beste machen kann.» Diese Zeit mit den zwei Jungen habe jedoch ihren Kindern und ihr selbst alles abverlangt. «Es war sehr intensiv.» Durch die beiden halte sie heute auch noch Kontakt zu Jesiden. Erst als die beiden ihr Haus verliessen und zu ihrem Onkel zurückkehrten, habe sie sich persönlich auf das Massaker an den Jesiden im Irak eingelassen. «Wenn du Menschen und Familien kennst, welche betroffen sind, dann geht das sehr nah.» Das Besondere sei, dass der IS sämtliche Botschaften und Gräuel virtuell so rasch verbreite. «Mein Natel vibrierte permanent bei den vielen Bildern von Hinrichtungen und Entführungen. Doch ich wollte es so. Ich wollte sehen was sie sehen. Ich habe durch Freunde im Irak Videos von entführten Frauen und Kindern erhalten, welche wir kannten. Das hat extrem viel mit mir gemacht.» Zeitweise habe sie sich unglaublich alleine gefühlt.

Ins Reden kommen

Seit 2016 führt Jäggi als Sekundarlehrerin die Klasse für Fremdsprachige in Olten. Das Eintauchen in die deutsche Sprache beginnt für ihre Schüler mit den beiden Hilfsverben sein und haben. «Wer bin ich und was kann ich?», fasst es Jäggi in Worte. Durch Interaktion und Nachsprechen baut sie mit ihrer Klasse einen am Alltag orientierten Grundwortschatz auf. «Ich arbeite mit meinem ganzen Körper und mache viel mimisches Spiel. Die Kinder sollen ins Reden kommen.» Natürlich gehe es nicht nur um die Sprache. «Ich vermittle die Jugendlichen beispielsweise auch in Sportvereine», erklärt die Lehrerin. Durchschnittlich acht Monate verbleiben die Jugendlichen bei ihr, bis sie dem Unterricht in einer Regelklasse folgen können. «Mein Chef hat mich deshalb auch schon «Durchlauferhitzerin» genannt», so Jäggi mit einem Schmunzeln.

Die Reise

Sie habe erst mit 50 Jahren die Zeit gefunden, um sich mit sich selbst zu beschäftigen. «Zuvor lebte ich einen Alltag, bei dem ich immer unter Strom stand: Die vier Kinder ins Fussballtraining oder ins Eislaufen fahren, arbeiten, kochen und natürlich auch noch für seine Schulkinder in der Verantwortung stehen», zählt Jäggi auf. Erst durch mehr zeitlichen Freiraum habe es auch Raum für innere Verarbeitung gegeben. «Ich habe mich gefragt, wieso mein bisheriges Leben so gewesen ist, wie es war und ich wollte verstehen, wie familiäre Muster mich geprägt haben, welchen Einfluss sie auf meinen Weg hatten und wie ich sie durchbrechen kann.» In der Ruhe der Natur und in der Dunkelheit der Nacht sei sie sich schliesslich selbst auf die Schliche gekommen und plötzlich habe für sie alles Sinn gemacht. «Es war ein bitterer Moment, wenn auch ein heilsamer», sagt Jäggi. Ihre eigene Reise zu sich selbst sei inzwischen fertig. Sie ist wieder bei sich selbst und in ihrem Haus in Trimbach angekommen. Wenn sie je aus der Region Olten wegziehen würde, dann nur an einen Ort mit Meersicht, sagt sie lachend. Denn am besten gefalle ihr an Olten, dass sie darauf hinunterschauen könne. Jäggi fühlt sich geschätzt in der Dreitannenstadt. «Meine inzwischen erwachsenen Kinder begleiten mich jedoch nur ungern in die Stadt, weil ich dann alle zehn Minuten jemanden antreffe und für einen Schwatz stehenbleibe.»

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