Vom Elend ins Paradies – und zurück

Unvergessen Die Kindheit von Elisabeth Häubi-Adler in Wien war geprägt von der Nazi-Diktatur und vom Zweiten Weltkrieg. Dass es auch eine andere Lebensrealität gab, erfuhr sie erst bei einer Reise in die Schweiz 1946.

Die 12-jährige Elisabeth mit neuen Kleidern in Bern (1946).

Die 12-jährige Elisabeth mit neuen Kleidern in Bern (1946).

Elisabeth Häubi reiste 1946 als zwölfjähriges Mädchen alleine aus dem kriegsversehrten Österreich auf einer beschwerlichen Zugfahrt in die Schweiz – für einen Erholungsurlaub für geschwächte Kinder. 1953 wurde sie in der Schweiz heimisch. (Bild: Achim Günter)

Elisabeth Häubi reiste 1946 als zwölfjähriges Mädchen alleine aus dem kriegsversehrten Österreich auf einer beschwerlichen Zugfahrt in die Schweiz – für einen Erholungsurlaub für geschwächte Kinder. 1953 wurde sie in der Schweiz heimisch. (Bild: Achim Günter)

Elisabeth Häubi-Adler wurde im Februar 1934 in Wien geboren. Ihr Vater war säkularer Jude, ihre Mutter Katholikin. Hugo Adler betrieb als Agraringenieur auf einem Gutsbetrieb im österreichischen Nordosten Saatgutforschung. Ein Jahr nach der Geburt von «Lisel» starb ihr Vater an einem Herzinfarkt – mit 45 Jahren. Die Mutter Maria Adler – damals 25 Jahre alt – blieb mit der einzigen Tochter alleine zurück und wohnte fortan in Wien. Im sich zuspitzenden politischen Klima verbrachte die kleine Elisabeth eine recht unbeschwerte frühe Kindheit.

Das änderte sich Mitte März 1938 und dem «Anschluss» Österreichs ans Deutsche Reich. Eines Tages erhielt ihre Mutter eine Vorladung der Gestapo, der Geheimen Staatspolizei. Als «Judenwitwe» drohte ihr der Tod. Bei dieser Vorladung im Wiener Hauptquartier der Gestapo traf die Mutter auf einen SS-Offizier – es war Liebe auf den ersten Blick. Der SS-Mann hielt seine schützende Hand über die Frau und deren Tochter. Bald darauf heiratete er die Witwe und rettete dieser und deren Tochter damit wohl das Leben. Nach dem deutschen Überfall auf Polen und dem Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde der Stiefvater in ein Gestapo-Quartier in Polen abkommandiert, später war er im Konzentrationslager Auschwitz als Aufseher tätig. Nach der Befreiung von Auschwitz geriet er in sowjetrussische Gefangenschaft. Häubis Mutter hörte nie mehr etwas von ihm.

Über ihre Kindheit im Dritten Reich schrieb Elisabeth Häubi das eindrückliche Buch «Brave Mädchen fragen nicht.» In den letzten beiden Kriegsjahren erlebte sie in der Stadt Wien und deren Umland auch Bombardierungen mit. Die Bevölkerung litt sehr, es fehlte an allem. Sie aber sollte schon bald ein «Wunder erleben».

 

«Dann kam endlich der Tag null. Alles lag am Boden. Es gab keine Verpflegung, keine Heizung, dafür Hunger, Armut und Millionen verkrüppelter oder psychisch kaputter Soldaten. Wien wurde nach Kriegsende wie Berlin in vier Besatzungszonen aufgeteilt. Unsere Wohnung lag in der sowjetrussischen Zone. Jene Leute, die sich sofort der kommunistischen Partei anschlossen, wurden bevorteilt. Meine Mutter, die im Krieg die Judenwitwe gewesen war, galt nun als Naziwitwe. Unsere Wohnung wurde von Kommunisten besetzt, meine Mutter und ich wurden für drei Jahre obdachlos.

Für mich aber geschah ein Wunder. In der Schweiz spendeten damals viele Leute via Rotes Kreuz Lebensmittelpakete nach Österreich. Und wir wurden in Wien in den Schulen von Ärzten des SRK untersucht. Weil ich so schwächlich war und nur noch aus Haut und Knochen bestand, erhielt ich ein solches Lebensmittelpaket. In diesem stand eine Adresse drin. Ich bedankte mich bei dieser Frau mit einem schönen Brief. Anna Abderhalden war Leiterin der Telefonzentrale im Bundeshaus in Bern. Sie schickte mir nun monatlich ein Kraftpaket, und zwischen Tante Anni und mir entwickelte sich eine Brieffreundschaft.

Schliesslich wollte sie mich zur Erholung in die Schweiz kommen lassen. Ein befreundetes Ehepaar von ihr war bereit, mich als Ferienkind aufzunehmen. Der Mann, Hans Christen, war Präsident der Kinderhilfe des Schweizerischen Roten Kreuzes. Er bewirkte, dass Tausende Kinder aus Deutschland, Österreich, Frankreich und Italien während dreier Monate in Familien untergebracht werden konnten. Ich konnte bereits in die Schweiz fahren, bevor die Aktion richtig anlief. Ich bekam ein Visum und ein Zugbillett.

Wir wohnten damals als Obdachlose bei fremden Leuten. So war meine Mutter froh, dass ich gehen konnte, obwohl sie überhaupt nicht wusste, wohin es mich verschlagen würde. Von der Schweiz hatten wir keine Ahnung. Ich kannte ja nur die Nazizeit. Als ich im völlig zerstörten Wiener Westbahnhof den Zug bestieg, war es fast wie in Indien: Hunderte Leute wollten auf diesen Zug. Als endlich das Signal ertönte und der Zug geöffnet wurde, stürmte die Meute los. Meine Mutter liess mich los und ich wurde von dieser Meute mitgerissen. So kam ich ganz alleine, als zwölfjähriges Mädchen, auf diesen Zug. Um meinen Hals hing eine kleine Tafel mit der Adresse in Wien und der Adresse in Bern, in der Hand trug ich ein kleines Köfferchen.

Der Zug fuhr ganz langsam, war insgesamt mehr als 48 Stunden unterwegs. Es gab immer wieder stundenlange Aufenthalte, viele Kontrollen. Es war wie in einem Viehtransport: die Fenster kaputt, mit Holzbrettern vernagelt, es gab fast nichts zu essen, nichts zu trinken. Ich machte einige Male in die Hosen. Es stank fürchterlich in diesem Zug. Endlich hiess es: ‹Jetzt sind wir an der Schweizer Grenze.›

Als ich die Schweizer Kontrolleure erblickte, glaubte ich Menschen von einem anderen Stern zu sehen. Ich hatte nur halb verhungerte, versehrte, zerlumpte, verängstigte Leute gekannt. Und dann kamen da so schöne, saubere Männer in schönen Uniformen, mit Schuhen, ins Abteil hinein. Dann redeten sie auch noch so freundlich! Zwar verstand ich sie nicht, merkte aber, dass sie freundlich sind. Bei Buchs SG zottelte ich über die Grenze und kam in ein Auffanglager, wo ich untersucht wurde. Da blieb ich etwa zwei Tage. Irgendwann hiess es, ich könne weiterfahren. Ich wurde auf den Bahnhof gebracht. Da erblickte ich einen schönen Mann mit roter Mütze. Ich sagte zu ihm: ‹Bitte, ich muss nach Bern. Ich muss nach Bern, ich habe dort die Tante Anni.› ‹Wo ist denn die Tante Anni›, fragte er. ‹Ich weiss nur, dass sie Anni Abderhalden heisst und bei der Regierung Chefin ist fürs Telefonieren.› In der Aufregung hatte ich vergessen, dass die Adresse der Familie Christen ja auf der Karte unter meinen Kleidern stand. Dann telefonierte dieser Mann die längste Zeit herum und fand schliesslich heraus, wer das ist, reichte mir das Telefon und sagte: ‹So, da hast du deine Tante Anni.› Ich weinte und sagte: ‹Bitte, ich bin da, ich bin da, aber ich weiss nicht wo!›

Der Bahnhofvorstand setzte mich in einen Zug nach Zürich und erklärte mir, ich müsse dort umsteigen. Ich staunte über den schönen Zürcher Hauptbahnhof. Und wie sauber die Leute alle waren, was sie für Kleider und Schuhe trugen, und wie wohlgenährt sie alle waren! Ich sprach einen schönen uniformierten Gepäckträger an und sagte wieder: ‹Bitte, ich muss nach Bern.› Er brachte mich zu einem Zug. Dieser kam mir vor wie ein Raumfahrzeug. Es war einer der ersten Leichtmetallzüge.

In der Dunkelheit kam ich im ohnehin finsteren Bahnhof Bern an, am vierten Tag nach meiner Abfahrt in Wien. Zuerst wusste ich nicht weiter. Plötzlich trat ein grosser, hocheleganter Herr an mich heran und sagte: ‹Da bist du ja endlich.› Ich fürchtete mich; meine Mutter hatte mir eingeschärft, nie mit fremden Männern mitzugehen. Dann kamen aber auch schon zwei Damen auf mich zu und umarmten mich: Anni Abderhalden und Hanny Christen. Ich merkte jedoch rasch, dass sie sich ekelten, weil ich so stank. Mit einem Auto wurde ich in eine schöne Villa am Engeriedweg gebracht. Es war, als würde ich in ein Schloss eintreten.

Das Dienstmädchen steckte mich sogleich in die Badewanne und wusch mich. Danach wurde ich ins Bett gebracht und mit Essen versorgt. Ich verschlang es. Kaum hatte ich runtergeschluckt, erbrach ich alles auf die saubere Bettdecke. Ich war das Essen nicht mehr gewohnt – ich schämte mich so sehr. Nachdem das Bett neu bezogen war, durfte ich schlafen. Das war mein erster Tag in der Schweiz. Ich dachte, ich käme in den Himmel. Das werde ich nie vergessen.

Die Pflegemutter Hanny Christen ging mit mir bald darauf zum Warenhaus Loeb und kaufte Kleider, Schuhe und Wäsche ein für mich. Bald darauf erholte ich mich. Nach vier Monaten war ich fast 12 Zentimeter gewachsen! In den folgenden Jahren durfte ich jedes Jahr im Sommer dem Elend in Wien entfliehen und die Familie Christen besuchen und mich aufpäppeln lassen. Als Gastschülerin konnte ich während der langen Aufenthalte auch das Progymnasium besuchen. Danach musste ich zurück nach Wien, also immer vom Paradies ins Elend zurück.»

 

Elisabeth Häubi absolvierte 1953 in Wien die Wirtschaftsmatur. Im selben Jahr reiste sie wieder zu ihren Bekannten nach Bern, und durch deren vorherige Vermittlung durfte sie im Lindenhofspital eine Krankenschwester-Lehre in Angriff nehmen. 1956 heiratete sie den Berufsschullehrer Albert Häubi und wurde in den folgenden Jahren Mutter zweier Töchter. 1961 nahm das Ehepaar Häubi-Adler Wohnsitz in Lostorf. Sie arbeitete im Kantonsspital Olten weiter als Krankenschwester, sass im Gemeinderat, nahm in weiteren kommunalen Behörden Einsitz, gründete in Lostorf eine Kunst- und Hobbyausstellung, führte 20 Jahre lang das Lostorfer Märlifest durch und betrieb 40 Jahre lang das Lostorfer Kasperlitheater. Häubis Mutter emigrierte 1957 in die Schweiz und wurde im Glarnerland heimisch, wo sie erst 2008 mit 98 Jahren verstarb. Seit ein paar Monaten lebt Elisabeth Häubi im Alterszentrum Oase in Obergösgen. Geistig noch sehr rege, leidet die 88-Jährige darunter, beinahe erblindet zu sein.

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