«So etwas Grosses hatte ich noch nie erlebt»
Unvergessen Vor einem Jahr, Anfang Juli 2022, wurde der ehemalige EHC-Olten-Junior Lian Bichsel beim NHL-Draft als 18. Spieler ausgewählt – als erster Schweizer seit Nico Hischier im Jahr 2017. Der heute 19-jährige Wolfwiler denkt gerne an die drei aufregenden Tage in Montreal zurück.
Lian Bichsel wurde im Mai 2004 in Olten geboren. Er wuchs als Sohn des ehemaligen Handball-Nationalspielers und langjährigen HV-Olten-Trainers André Bichsel und einer ambitionierten Hobby-Sportlerin auf. Schon früh fand er Gefallen am Eishockey und trat im Kindergartenalter in die Juniorenbewegung des EHC Olten ein. Er probierte aber auch andere Sportarten wie Handball, Basketball oder Mountainbiken aus und spielte bis ins Teenageralter parallel Fussball beim FC Wolfwil. Sein älterer Bruder Joel Bichsel (21) ist Fussballer und hat im Frühling erstmals einen Profivertrag bei den Young Boys Bern unterzeichnet, sein jüngerer Bruder Finn ist ebenfalls ein Eishockeytalent und spielt beim EHC Biel.
Als 13-Jähriger wechselte Lian Bichsel 2017 von Olten nach Biel. Nach der obligatorischen Schulzeit begann er eine Sport-KV-Lehre, brach diese aber nach einem Jahr ab und setzte fortan voll auf die Karte Profisport. Mit gerade mal 17 Jahren verliess er die Schweiz und setzte seine Karriere beziehungsweise seine Eishockey-Ausbildung 2021 beim schwedischen Verein Leksands IF fort. Bereits in der ersten Saison bestritt er die Mehrzahl seiner Spiele nicht wie vorgesehen mit dem Juniorenteam, sondern mit der ersten Mannschaft – und spielte sich spätestens jetzt ins Notizbuch zahlreicher NHL-Scouts. Vor dem Draft 2022 galt es als sehr wahrscheinlich, dass Lian Bichsel von einem Team gezogen werden würde, dass sich also eine der 32 NHL-Organisationen die Rechte an ihm sichern würde.
«Wir entschieden uns sehr spontan, nach Montreal zu fliegen. Erst fünf Tage vor dem Draft fiel der Entscheid. Zuerst hatten wir gedacht, dass die NHL-Organisation die Reisekosten übernehmen würde. Aber das war nicht der Fall. Wir mussten alles selbst bezahlen. Auch deswegen entschieden wir uns sehr kurzfristig zu diesem Trip. Zwei Tage vor dem Draft flogen wir los. Mein Agent Frédéric Holdener, dessen Frau Margrethe van der Stroom Holdener – ebenfalls meine Agentin – und ich. Meine Eltern blieben zuhause. Der Aufwand, alles in so kurzer Zeit zu organisieren, wäre zu gross gewesen. Gespräche fanden auch mit meiner schwedischen Freundin statt. Aber wir vereinbarten, dass sie im Sommer stattdessen mal in die Schweiz kommen würde.
Ich ging ohne grosse Erwartungen an den Draft – und war deshalb sehr entspannt. Erst am Tag vor dem Grossereignis kamen wir in Montreal an. Am Draft-Tag fand am Morgen ein Frühstück der NHL mit den Top 100 auf der Draftliste statt. Die NHL stellt eine Liste zusammen mit jenen Spielern, die vermutlich von den Teams in den ersten drei Runden gezogen werden. In diesen drei Runden werden jeweils ungefähr 30 Spieler gedraftet. Tagsüber gingen wir dann shoppen; ich kaufte mir ein paar Schuhe, eine schöne Sonnenbrille. Danach zog ich mich ins Hotelzimmer zurück und bereitete mich auf den Abend vor.
Der Sohn meines Agenten hatte auch in Kanada Hockey gespielt. Da wir noch einige Freitickets hatten, luden wir die damalige Gastfamilie des Sohnes ein und waren so schliesslich eine kleine Gruppe von sieben, acht Personen. Nach dem gemeinsamen Abendessen startete der Draft um 20 Uhr. Wir sassen auf der Tribüne in dieser grossen Halle – und brauchten Geduld. Die Show, die live im TV ausgestrahlt wurde, wurde immer wieder durch Werbepausen unterbrochen. Es ist generell eine Riesenshow, der Draft ist jeweils einer der grössten Events der Saison. Für mich war es eine neue Erfahrung. So etwas Grosses hatte ich nie zuvor erlebt. Ich musste bereits vor dem Draft zahlreiche Interviews geben, Kameras waren auf mich gerichtet. Aber ich konnte es dennoch geniessen.
Nach jedem Pick dachte ich mir: Wann werde ich endlich gezogen? Und dann, nach ungefähr drei Stunden, kam der 18. Pick der ersten Runde – und mein Name wurde aufgerufen. Zuerst konnte ich es gar nicht glauben! Das war ein sehr spezieller Moment für mich. Ich ging die Tribüne hinab und schritt auf die grosse Bühne. Dort streifte ich mir das Dress von Dallas über, und dann wurden Fotos geschossen. Von mir allein, zusammen mit dem Scouting-Team von Dallas, mit dem gesamten Staff von Dallas. Das wars dann auch schon wieder, auf der Bühne war ich vielleicht während dreier Minuten. Hinter der Bühne musste ich dann wieder zahlreiche Interviews geben.
Dass sich Dallas für mich entschieden hatte, überraschte mich ziemlich. Vor dem Draft hatte ich mit dieser Organisation eigentlich nicht allzu viel zu tun gehabt. Ich begann mich dann rasch über Dallas zu informieren – über das Team, den Sportchef, die Strategie, das Umfeld, die Stadt an sich. Ich bin sehr glücklich, dass ich von dieser Organisation gezogen wurde. Dallas ist eine sehr heisse Stadt – im Sommer, aber sogar im Winter. Ich freue mich extrem auf die Stadt, auf diese Challenge. Das Team ist sehr jung, befindet sich im Umbruch.
Nach der Rückkehr ins Hotel, etwa um 1 Uhr nachts, assen wir nochmals zusammen mit dem Dallas-Staff. Vielleicht um 3 Uhr war ich schliesslich im Bett. Am dritten Tag des Montreal-Trips fuhren wir am Vormittag nach der kurzen Nacht auch schon wieder zum Flughafen und traten die Rückreise in die Schweiz an. Für mich war ein Traum in Erfüllung gegangen, es war eine sehr coole Erfahrung für mich.»
Nach dem Draft wurde mit den Dallas-Verantwortlichen vereinbart, dass Bichsel auch die folgende Saison in Leksand bleiben würde. Die Saison – seine zweite in Schweden – verlief für ihn persönlich erfolgreich. Das Team scheiterte zwar in den Pre-Playoffs an Rögle, Bichsel jedoch zählte zum Stammpersonal. Zudem durfte er für die Schweiz die U20-WM bestreiten und erhielt im Februar von Trainer Patrick Fischer das erste Aufgebot fürs A-Nationalteam. Ob der 1.97 Meter grosse und 105 Kilogramm schwere Verteidigerhüne letztlich auch für die Weltmeisterschaft aufgeboten worden wäre, bleibt hypothetisch. In einem Vorbereitungsspiel gegen Schweden brach er sich Anfang Mai das Wadenbein – der WM-Traum platzte jäh. Vier Tage nach der Verletzung unterschrieb er in einem Hotel in der Schweiz seinen ersten Vertrag mit den Dallas Stars. Inzwischen steckt Lian Bichsel längst im Sommertraining. Dieses absolviert er in der Schweiz. Letzte Woche jedoch nahm der Wolfwiler an einem Prospect Camp der Dallas Stars in den USA teil. Im September wird er erneut nach Texas fliegen – verbunden mit der Hoffnung, einige Wochen später erstmals in der NHL auf dem Eis zu stehen.