«Nur noch auf kleine Tische»

Was macht eigentlich? Studierende aus vier Dekaden kennen ihn als den emsigen Pultspringer von der Oltner Berufsschule. Wie damals lebt Franz Derendinger auch heute ohne festen Zeitplan.

«Meditieren kann ich, wenn ich tot bin»: Franz Derendinger vor der Oltner Holzbrücke. (Bild: Franz Beidler)
«Meditieren kann ich, wenn ich tot bin»: Franz Derendinger vor der Oltner Holzbrücke. (Bild: Franz Beidler)

Meditieren: Sobald Franz Derendinger dieses Wort ausgesprochen hat, richtet er sich im Stuhl auf, wirft die Hände über den Kopf, reisst Augen und Mund auf und ahmt einen Schreckensschrei nach. «Meditieren kann ich, wenn ich tot bin», hängt er in trockenem Ton an. Dann lacht er herzhaft, entzückt ob seinem kleinen Schauspiel.

Derendinger, gerade mal 70 Jahre alt, unterrichtete während fast vier Dekaden am Berufsbildungszentrum Olten. Deutsch, Kulturgeschichte und Sozialwissenschaften waren seine Fächer. Vielen seiner ehemaligen Eleven ist er bis heute in Erinnerung: Weil er die Schauspieleinlagen auch im Unterricht einsetzte. Weil er immer wieder vorführte, wie er aus dem Stand auf ein Pult springen konnte. Aber auch, weil er mit ihnen seine beiden Passionen Film und Philosophie teilte. «Ich habe über den Umweg Film Literatur in die Hirne geschmuggelt», sagt Derendinger und grinst spitzbübisch. Dass er Lehrer werden wollte, hatte er schon als Vierzehnjähriger be­schlossen.

Vor vier Jahren wurde Derendinger pensioniert. «Ich vermisse nichts», sagt er nach einer kurzen Denkpause gelassen. Das überrasche ihn eigentlich. «Schliesslich macht sie mir schon sehr viel Spass, die Dozentensituation.» So ist er denn ein emsiger Vermittler geblieben: Etwa zweimal jährlich bespricht er Filme am Lacan Seminar in Zürich, «eher abseitige Streifen», erklärt er. «The Hours» von Stephen Daldry oder David Lynchs «Blue Velvet» waren schon dran. Und im Juni wird es «Annihilation» nach einem Roman von Jeff Vandermeer sein. Kurz vor dem Lockdown im vergangenen Jahr besprach er im Oltner Kino Lichtspiele «Undine» von Christian Petzold. Für das Arthousekino verfasst Derendinger auch jede Woche eine Vorschau auf die kommenden Filme.

Regelmässig im «Journal 21»

Derendinger ist auch als Autor tätig. Zwar nicht mehr von filmtheoretischen Essays, wie er sie in den Neunzigern für das Filmmagazin «Zoom» schrieb. Seit seiner Pensionierung veröffentlicht er regelmässig Texte im Onlinemagazin «Journal 21». «Ich schöpfe da aus einem Fundus», sagt er. Als Dreissigjähriger, da unterrichtete er schon in Olten, nahm Derendinger ein Zweitstudium in Philosophie in Angriff. Seither schrieb er stets. Die Grenzen des Freiheitsbegriffs seien das zentrale Thema seiner Überlegungen. Doch seit Beginn der Coronapandemie erschien keine seiner Schriften mehr. Er habe noch Fertiges in der Schublade. Aber: «Corona hat mir die Sprache verschlagen», sagt er nachdenklich. Die ganzen Diskussionen würden auf einem verblödeten Niveau geführt, geprägt von infantilem Narzissmus, solcher Schwachsinn sei unter jeder Kritik. Derendinger redet sich in Rage. «Ich möchte schreiben können wie Nietzsche und über die sogenannten Querdenker herziehen», sagt er, lacht laut und meint: «Aber mir fehlt sein grossartiger Stil.» So bleiben seine Gedanken für den Moment eben in der Schreibtischschublade liegen.

«Ich denke, wenn’s denkt»

Er arbeite meist anfallsweise an der Philosophie, sagt Derendinger. «Ich denke, wenn’s denkt, und wenn’s nicht denkt, dann muss ich halt etwas anderes machen.» So kann es vorkommen, dass er am Computer spielt, anstatt zu schreiben. «Alpha Centauri» heisse das Videospiel. «Ich spiele das seit zwanzig Jahren und werde einfach nicht besser», sagt er lachend. Versuch und Irrtum sei nicht seine Methode. «Um etwas zu lernen, muss ich es lesen.»

Dass er seine Tage ohne festen Zeitplan ordnet, ist für Derendinger nichts Neues. Die Arbeitszeit habe er sich auch beim Unterrichten immer selber eingeteilt. «Als Lehrer kam ich mir vor wie ein freischaffender Künstler, nur ohne das finanzielle Risiko.» So gibt es denn nur wenige Fixpunkte in Derendingers heutigem Lebensrythmus. Gesetzt sind jährlich nur das Filmfestival in Locarno und das Literaturseminar im Hotel Waldhaus oberhalb von Sils Maria. Und jeden Samstagabend die Sportschau von der ARD.

Derendinger ist ein Fussballnarr, der bis vor drei Jahren auch noch selber spielte. «In einem Plauschteam jeden Mittwochabend», sagt er. «Nun erträgt das linke Knie keine schnelle Torsion mehr.» Eine schlafende Arthrose hat ihn heimgesucht. Die abnehmende Beweglichkeit nerve ihn. «Ich bin eigentlich sehr motorisch und laufe und springe gerne in meinem Alltag.»

Nur die Enkelkinder sind heiliger

Die Sportschau ist Derendinger so heilig, dass er davon höchstens für seine Enkel ablässt. Fünfeinviertel Enkelkinder habe er im Moment, meint er lachend. «Das sechste ist unterwegs.» Sie hütet er auch regelmässig, «sicher jede Woche». Dann geht er mit ihnen im Wald spazieren, vielleicht ein Feuer machen. «Dabei bin ich immer für sie da und ansprechbar, während sie den Wald entdecken», sagt Derendinger. Es sei ihm wichtig, präsent zu sein. Oder Derendinger baut mit den Enkeln an seiner «Xyloba», einer Murmelbahn im Steckkastenprinzip, die Musik macht. «Die habe ich mir vom Kanton zur Pensionierung gewünscht.» Und den Ältesten begleitet Derendinger jeden Donnerstag ins Fussballtraining. «Das geht auch noch mit der schlafenden Arthrose», meint er lachend.

Auf Pulte springt Derendinger seit seiner Pension nicht mehr. «Nur noch auf kleine Tische.»

 

Dieses Buch kann ich wärmstens empfehlen

«Lehrjahre der Männlichkeit. Geschichte einer Jugend», der letzte grosse Roman von Gustave Flaubert aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, ein hochmodernes, flirrendes Gesellschaftspanorama.

Auf diesen Gegenstand kann ich nicht verzichten

Auf meinen Computer. Er ist Arbeits-, Informations- und Spielgerät.

An diesem Ort gefällt es mir ausgezeichnet

Im Hotel Waldhaus oberhalb von Sils Maria. Ich nehme dort jährlich an einem Literaturseminar teil.

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