Mit Meerrettich und steter Raspel
Was macht eigentlich? Er war Unternehmer, Gemeinderat, Präsident des Gewerbeverbands und vermeintlicher Spitzensportler: Beim Brunch mit Böbes Aerni.
Auf dem Tisch liegen ein Käsebrett mit Greyerzer, Brie und auch einem, der schimmelt, daneben in den aufgerissenen Verpackungen Salami, Schinken und Bündnerfleisch, und etwas weiter hinten die «Weltwoche». Mit «Literatur und Kunst» ist die aufgeschlagene Seite überschrieben. Böbes Aerni sitzt mit aufgestützten Ellenbogen oben am Tisch, vor sich den leeren Teller und eine Tasse Kaffee. Er wurde eben mit dem Brunch fertig. «Die NZZ liegt dort drüben», sagt er und deutet auf das Schuhgestell. «Man muss ja beide Seiten kennen.»
Böbes, eigentlich Adolf Aerni – «niemand weiss, woher Böbes kommt, aber alle nennen mich so» – bruncht inzwischen jeden Tag. Denn während den sechzehn Jahren im Oltner Gemeindeparlament oder den achtzehn als Präsident von Gewerbe Olten konnte der heute 85-Jährige das nicht. Und als Geschäftsführer der SIO AG, die er 1977 mitgründete, sowieso nicht.
Allerdings steht Aerni nach wie vor jeden Tag um sechs Uhr in der Früh auf. «Sonst ist der Tag vorbei», findet er. Dann geht er in die Küche und trinkt zwei Gläser Wasser. Zurück im Schlafzimmer macht er Dehnübungen, die gleichen seit 1976. «Ein befreundeter Arzt hat mir die damals gezeigt», erzählt er. 1976 war Aerni mit dem Schweizerischen Curling-Nationalteam in den USA an der Weltmeisterschaft. Die Kabinen der Curlinghallen sind eng. «Die Übungen sind extra so ausgelegt, dass ich sie auch mit wenig Platz machen kann.»
«Dann kommt die Schönheit», schildert Aerni seinen Tagesablauf weiter und grinst breit. Zur Morgentoilette gehöre auch eine saubere Rasur und die richtige Hautpflege. «Dann der Rundgang.» Aerni spricht von Rundgängen, nicht Spaziergängen. «Ich gehe», doppelt er nach. Aerni geht jeden Tag. So sei das auch gut für die Gesundheit. Etwa Dreiviertelstunden dauert so ein Rundgang durch Olten.
Ist er schon unterwegs, geht er auch gleich einkaufen. Tomaten, Gurken und auch Rettich kaufe er vom Oltner Wochenmarkt. «Das Gemüse dort ist frischer.» Heute Vormittag habe er einen prachts Meerrettich auf dem Markt entdeckt, erzählt er. Den hat er sich dann auf eine Untertasse geraspelt und Brot und Fleisch darin getunkt.
«Ich bin ein Rettich-Fan», sagt Aerni. Schon als Fünfjähriger habe er der Mutter im Garten helfen müssen, im Haus am Waldrand in Starrkirch-Wil. «Sie hat immer viel Rettich gepflanzt.»
Manchmal esse er auch nur Honigschnitten zum Brunch. «Aber Käse gibt es immer», hält Aerni mit gehobenem Zeigfinger fest. Dafür fährt er jeden Samstag nach Zofingen. Ein Freund von ihm führt dort ein Käsefachgeschäft.
«Ich liess nicht locker»
«Hartnäckig», sagt Aerni mit stark betonten Konsonanten, «das war ich schon immer.» Neunzehn Jahre alt war er, eben gerade zum Möbelschreiner ausgebildet, da half er einem befreundeten Bauer bei der Ernte aus. «Am letzten Tag bat er mich, ein Rind von der Weide in den Stall zu führen», erzählt Aerni. Ein wildes Tier sei das gewesen. Auf dem Heimweg, Aerni führte das Rind an einem Seil, wurde es störrisch. Zuerst versetzte es ihm ein paar Hufschläge, dann rannte es los. Aerni hatte sich das Seil um die Hand gewickelt und hielt sich fest. «Ich liess nicht locker», sagt Aerni. Das Rind schleppte ihn hinterher, bis sich das Seil um Aernis Daumen zurrte und ihm das vorderste Glied abriss.
Im Spital erzählte Aerni seinem Bettnachbarn vom Unfall, und dass er jetzt wohl nicht mehr als Möbelschreiner arbeiten könne, ohne Daumen. Dieser schlug ihm eine KV-Lehre vor. Noch im selben Jahr begann Aerni die Ausbildung bei der Oltner Publicitas.
Die Gründung der eigenen Firma
Gerade vierzig Jahre alt war Aerni, als er aus der Schlosserei «Josef Schibli Eisen und Metallwaren» die SIO AG machte. «Den Moment vergesse ich nie mehr», setzt Aerni an. Er war inzwischen diplomierter Buchhalter und hatte sich Mitte der Siebzigerjahre an einer Oltner Firma beteiligt, die er nun übernehmen wollte. Die Bank hatte ihm bereits den Kredit für den Aktienkauf zugesichert und Aerni war auf dem Weg zur Kantonalbank, um die letzten Verträge zu unterschreiben. «Die Kantonalbank war damals noch im Aarhof-Gebäude», erinnert er sich, «hinter einer grossen, schweren Türe.» Als Aerni seine Hand auf die Klinke legte, um die Türe aufzuziehen, spürte er plötzlich eine andere Hand, die sich auf seine legte. Es war jene von Josef Schibli, dem Metallschlosser am Rötzmattweg, wo Aerni nach der KV-Lehre seine erste Anstellung gefunden hatte. «Er meinte, er verkaufe seine Firma doch auch», erinnert sich Aerni. So entschied er sich noch vor der grossen Türe der Kantonalbank um und kaufte die Firma seines ehemaligen Chefs.
Hartnäckig war Aerni auch als Sportler. 1976 wurde er als Skip mit seinem Oltner Curlingteam Schweizermeister. Deswegen erhielt er eine Einladung zur Weltmeisterschaft im gleichen Jahr. Als er in einem Interview dazu befragt wurde, und die Rede von Spitzensport war, tat Aerni seine Meinung dazu kund: «Curling ist doch kein Spitzensport», platzt es noch heute aus ihm heraus. «Jedenfalls war es das damals noch nicht», fügt er dann an. Der Nationale Curlingverband tolerierte die Aussage seines Topspielers nicht. Aerni wurde nach Zürich ins Büro zitiert. Dort bot er den Verbandsherren die Stirn im Wissen, dass sie ihm nichts anhaben konnten. «Die Organisatoren haben mich an die WM eingeladen, nicht den Verband», habe er den Herren dort ins Gesicht gesagt. Aerni hält inne und grinst. Schliesslich sollte er mit seinem Team in die USA an die WM reisen, während der Verband die Reisekosten und das einheitliche Tenue sponserte. Zurück kehrte Aerni mit einer Bronzemedaille.
Damals habe er ja auch jeden Tag zwei Stunden trainiert, kommentiert er den Erfolg. Aernis Büro lag gleich neben der Eishalle. «Der Eismeister hat mir jeden Abend für die Zeit von sechs bis acht Uhr eine Bahn präpariert.» Also huschte Aerni um sechs aus dem Büro in die Halle und trainierte bis um acht. «Dann gings nochmals ins Büro», erzählt Aerni und lacht auf.
Gemeinderat und Gewerbeverband
Er habe nie das Gefühl gehabt, dass er überlastet sei. «Erst am Schluss», fügt er dann an. «Da kam halt vieles dazu.» Aerni war schon in der Rechnungsprüfungskommission der Stadt Olten, als ihn ein Freund fragte, ob er denn nicht für die Oltner FDP in den Gemeinderat wolle. «Ja, klar, warum nicht», habe er geantwortet. Prompt wurde er gewählt. Das war 1981. Sechs Jahre später übernahm er dann auch noch das Präsidium des Oltner Gewerbeverbandes.
Viel Arbeit machte er sich auch selbst, wenn er wieder mal seiner Meinung die Treue hielt, anstatt einer allfälligen Parteilinie. «Wenn ich etwas wollte, dann kam ich so gut dokumentiert, dass ich es auch bekam», sagt Aerni, während er einen Zeigefinger in die letzten Brösel Meerrettich drückt und sie sich vom Finger saugt. «Beim Referendum gegen die Fernwärme waren wir im Gemeinderat nur zu zweit», erzählt er. Mitte der Achtziger war die Idee aufgekommen, die Abwärme des Kernkraftwerks in Gösgen zum Heizen zu nutzen. Aerni lehnt sich mit verschränkten Armen auf die Tischkante und holt aus: «Es gibt vier Gegenargumente.» Als er die ein paar Minuten später aufgezählt hat, kommt er zum Schluss: «Die Idee ist gut, aber das ist nicht machbar.» Bei der Abstimmung ging das Volk mit Aerni einig und schickte die Vorlage bachab.
Auch als er schon nicht mehr im Gemeindeparlament sass, mischte Aerni noch in Oltens Politik mit. So war er 2012 Mitglied des Referendumskomitees, als die Fusion Oltens mit umliegenden Gemeinden zur Diskussion stand. «Die haben wir auch gewonnen», kommentiert Aerni die Abstimmung lächelnd.
«Ich kann loslassen»
Vor eineinhalb Jahren verlor Aerni seine Ehefrau, «nach 55 gemeinsamen Ehejahren», rechnet er vor. «Das ist traurig und tut weh», hält er fest. Aber er habe eine glückliche Gabe: «Ich kann loslassen.» 1986 habe er zum letzten Mal Curling gespielt und seither keinen Stein mehr angefasst. Vor vier Jahren habe er seine Anteile an der Firma verkauft.
Tatendrang verspürt er aber nach wie vor. «Im Moment suche ich nach Möglichkeiten, meine strategischen Kenntnisse weiterzugeben», sagt Aerni. Als seine SIO AG Anfangs der Neunziger nicht gut lief, sah er eines Tages ein Inserat in der NZZ: «Ihre Strategie ist falsch», stand da in grossen Lettern. Noch am gleichen Tag wählte Aerni die angegebene Nummer und schrieb sich für den angepriesenen Fernkurs ein. Von der Lehre der engpasskonzentrierten Strategie ist er seither überzeugt. «Ich weiss, wie man eine Firma saniert, ohne einfach Leute zu entlassen. Das kann schliesslich jeder Löli.» Man müsse die Leute einbeziehen, dann gäben sie auch mehr zurück. «Jeder soll gerne arbeiten.»
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