«Man sieht viele schlimme Sachen»

Unvergessen Der Trimbacher Yannick Stalder setzt seine Arbeitskraft seit einem halben Jahr für die Menschen in der Ukraine ein. Er bildet unentgeltlich internationale Helfer und einheimische Zivilisten in Erster Hilfe aus. Auch an der Front in der Ostukraine war er schon im Einsatz.

Seit mehreren Monaten bietet der Trimbacher Yannick Stalder in der Ukraine Kurse in Erster Hilfe an; das Angebot stösst auf grosses Interesse. (Bild: ZVG)

Seit mehreren Monaten bietet der Trimbacher Yannick Stalder in der Ukraine Kurse in Erster Hilfe an; das Angebot stösst auf grosses Interesse. (Bild: ZVG)

Yannick Stalder.

Yannick Stalder.

Der 28-jährige Yannick Stalder wuchs mit zwei jüngeren Brüdern in Trimbach auf. Nach der obligatorischen Schulzeit begann er eine vierjährige Lehre als Elektroinstallateur. In der Rekrutenschule liess er sich zum Infanterieeinheitssanitäter ausbilden. Anschliessend arbeitete er während fünf Jahren wiederum in seinem angestammten Beruf. Auf der Suche nach einer neuen beruflichen Herausforderung stiess er auf die friedensfördernden Missionen der Schweizer Armee. Er bewarb sich dafür und diente ab Frühling 2019 drei Jahre lang im Kosovo, zuerst als «Observer», später als Fachoffizier mit eigenem kleinem Team. Gegen Ende seines Engagements im Kosovo verfestigte sich sein Wunsch, dereinst eine Ausbildung zum Rettungssanitäter in Angriff zu nehmen. Im April 2022 kehrte er in die Schweiz zurück – blieb allerdings nicht lange. Zwei Monate nach Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine hielt es ihn nicht zuhause, Stalder wollte der geschundenen Zivilbevölkerung vor Ort helfen.

 

«Eigentlich hatte ich mich auf die Rückkehr in die Schweiz gefreut – nach drei Jahren im Kosovo. Aber als dann dieser Krieg losbrach, trieb es mich in die Ukraine in den Hilfseinsatz. Ich hatte keine Verpflichtungen zuhause, keine Wohnung, keinen triftigen Grund, um zurückzukehren. Als ich die Bilder aus der Ukraine sah, war für mich klar, dass ich dorthin gehen würde. Ich fuhr mit dem Bus auf eigene Faust nach Polen und mietete mir dort ein Auto. An der polnisch-ukrainischen Grenze verschaffte ich mir ein Bild, in welchem Bereich ich mich nützlich machen könnte.

Zu Beginn arbeitete ich mit einer international zusammengesetzten Gruppe zusammen, die über längere Zeit Flüchtlingszentren mit Essen belieferte. Während dieser Zeit unternahm ich mehrere Exkursionen in die Ukraine und stellte dabei fest, dass die Leute dort oftmals keine Ahnung hatten von Erster Hilfe und medizinischer Versorgung. Ich empfand das als merkwürdig, als überraschend: Leute, die sich in einer Kriegsgegend aufhalten, haben keine Ahnung, wie man Verletzungen begegnen soll. Und zwar verfügten weder die dortigen Zivilisten noch die internationalen Helfer über wirkliche Kenntnisse in Erster Hilfe. In ruhigeren Momenten begann ich deshalb, Kenntnisse in Erster Hilfe zu vermitteln. Diese Kurse stiessen auf viel Resonanz.

Ich erkannte, dass diese Wissensvermittlung einem grossen Bedürfnis entsprach und schuf deshalb im Juni eine Website zum Spendensammeln und begann die ganze Hilfsaktion zu organisieren. All das Hilfsmaterial kostet Geld. Und mir war und ist es wichtig, die Leute nicht bloss auszubilden, sondern auch gleich Hilfsmaterialien, sogenannte Erste-Hilfe-Kits, abgeben zu können. Denn das entsprechende Training ohne das dazugehörige Material nützt nicht viel, umgekehrt nützt auch das Erste-Hilfe-Material ohne vorherige Ausbildung nicht viel.

Wir bilden Personen in Erster Hilfe aus, mit verschiedenen Kursen, abgestimmt auf die Kursteilnehmer. In erster Linie geht es darum, Blutungen stoppen zu können, die Atemwege zu sichern und weitere Verletzungen infolge des Krieges zu behandeln. Gleichzeitig geben wir diesen Personen das Material mit, das sie brauchen, um die gelernten Techniken und Fähigkeiten anwenden zu können. So schaffen wir quasi eine Dezentralisierung von medizinischer Hilfe. Bei grossen Angriffen können die professionellen Rettungsdienste ja nicht überall gleichzeitig sein. Bei den Ausgebildeten handelt es sich um internationale Helfer und vor allem um ukrainische Zivilpersonen. Unser Basiskurs dauert rund sechs Stunden, der Kurs für Fortgeschrittene auch mal vier oder fünf Tage. Ich konnte schon mehr als 700 Personen ausbilden.

Das Fundraising ist herausfordernd. Schwierig ist insbesondere, in der Ukraine zu sein und gleichzeitig in der Schweiz Spenden sammeln zu müssen. Aber in den vergangenen vier Monaten wurden fast 20000 Franken gespendet. Mit diesem Betrag konnten wir schon mehr als 100 vollständige Erste-Hilfe-Kits kaufen und verteilen. Ich sage ‹wir›, weil ich alle Spender und auch weitere Helfer einschliesse. Ich mache das Projekt nicht allein, auch wenn ich natürlich derjenige bin, der vorangeht.

Momentan lebe ich vom Ersparten. Ich war drei Jahre lang im Auslandeinsatz im Kosovo und habe währenddessen ziemlich gut verdient. Ich konnte viel Geld zur Seite legen, da ja auch kaum Gelegenheit bestand, es auszugeben. So bezahle ich meine eigenen Ausgaben selbst. Das Leben in der Ukraine ist nicht besonders teuer – verglichen mit Schweizer Verhältnissen. Gemeinsam mit anderen Anbietern medizinischer Kurse lebe ich in einem Hostel in Kiew. Die Kosten für die Unterkunft werden von jemandem spendiert, in den letzten Monaten musste ich für die Unterkunft also nichts bezahlen. Aber alles, was projektbezogen ist, bezahle ich mit dem Spendengeld.

Das Hilfsmaterial lasse ich per Flugzeug nach Krakau schicken. Dort lade ich es in meinen Van und fahre dann in die Ukraine. Die Grenzübertritte sind zeitaufwändig. Es dauert meist eine Stunde oder zwei, aus Polen in die Ukraine zu gelangen. Aus der Ukraine nach Polen sind es sogar sechs oder sieben Stunden. Die Grenzkontrollen sind strikt, jedes Fahrzeug wird genau kontrolliert.

In Kiew habe ich eine Basis. Ich habe mich dort mit anderen Helfern zusammengeschlossen, die wie ich medizinisches Training anbieten. So können wir Synergien nutzen und die Kurse effizienter anbieten. Der Bedarf an Kursen ist gross, und durch Mund-zu-Mund-Propaganda kommen wir stets zu neuen Kursteilnehmern. Wir versuchen die Kurse jeweils dort durchzuführen, wo die Leute sind. Gerade erst letzthin zum Beispiel waren wir in einer Fabrik, wo militärische Kleidung hergestellt wird. Diese Firma wurde bereits mehrmals bombardiert. So war es der Firmenleitung ein Anliegen, das Personal in Erster Hilfe zu schulen. Wir waren auch schon in Charkiw im Osten oder im Süden der Ukraine. Die Strassen sind meist noch gut befahrbar. Aber in der Ostukraine sind sie zum Teil völlig kaputt. Überhaupt gilt: Je östlicher man kommt, desto stärker werden die Zerstörungen.

Man sieht viele schlimme Sachen. Vor wenigen Wochen wurden wir in Isjum in der Ostukraine morgens von Artilleriebeschuss geweckt. Als ich rausging, sah ich, dass das Haus unserer Nachbarin in Schutt und Asche lag. Es handelte sich um eine 80-jährige Grossmutter. Wir suchten sie und fanden sie schliesslich im Keller ihres Hauses, in dem sie 50 Jahre lang gelebt hatte und das es nun nicht mehr gab; so etwas ist schon enorm traurig. Als wir sie fanden, begann sie zu weinen, weil sie uns für Russen hielt.

Auch Tote habe ich schon gesehen. Oder schwere Verletzungen. Zweieinhalb Wochen war ich selbst an der Front zwischen Isjum und Lyman als medizinischer Ersthelfer im Einsatz und transportierte dort Verletzte ab und behandelte sie. Da verarzteten wir zum Beispiel einen Mann, dessen halber Fuss weggesprengt worden war. Wir brachten ihn ins Spital, und jetzt kann er wieder laufen. Im ersten Moment hätte das niemand von uns für möglich gehalten. Solche Rückmeldungen geben einem enorm viel zurück.

Überhaupt gibt es bei aller Tragik des Krieges immer wieder sehr positive Momente. Zum Beispiel, wenn sich Leute später für die ‹supertolle Ausbildung› bedanken, die sie von uns erhalten hätten. Erst kürzlich erfuhr ich, dass einer der ersten, der ausgebildet worden war und ein Medi-Kit erhalten hatte, bei den Anschlägen am 10. Oktober in Kiew nach zwei Raketeneinschlägen als Ersthelfer im Einsatz war und helfen konnte. Das ist natürlich ein enorm schöner Moment! So erkennt man, dass man mit seiner Arbeit etwas bewirkt.»

 

Anfang Woche reiste Yannick Stalder via Krakau wieder nach Kiew. Er will weiterhin Ausbildungskurse in verschiedenen Gegenden der Ukraine anbieten – so lange das Projekt erfolgreich sei und genügend Spenden dafür generiert werden könnten. Später will Stalder in die Schweiz zurückkehren und sich zum Rettungssanitäter ausbilden lassen.

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