«Irgendwohin, wo es Kühe hat»

IM Gespräch Selina Lerch lebt ihre Leidenschaften: Seit drei Jahren arbeitet sie auf dem Buechehof und kümmert sich dort um das Vieh. Daneben widmet sie viel Zeit dem Musikhören.

Selina Lerch vor dem Traktor des Buechehof, mit dem sie jeweils Gras einfährt. (Bild: Franz Beidler)
Selina Lerch vor dem Traktor des Buechehof, mit dem sie jeweils Gras einfährt. (Bild: Franz Beidler)

Selina Lerch marschiert über den Feldweg, der vom Buechehof nach Lostorf führt. Der prächtige Herbsttag, der sich langsam dem Ende zuneigt, würde so manch einen zu einem genüsslichen Spaziergang übers Land verleiten. Schliesslich ist Feierabend. Lerch aber geht zügig, so dass sie fast ins Schnaufen kommt. Sie ist auf dem Heimweg, den sie fünf Mal die Woche geht, zurück in die Wohngruppe Birke, die sie sich mit drei anderen teilt. Das Abendessen ruft. Schliesslich ist Feierabend.

«Bauern ist meine Leidenschaft», sagt Lerch in breitem Baslerdeutsch. Ihre stahlblauen Augen hat sie auf den Boden gerichtet, während sie geduldig spricht und zwischen den Sätzen Luft holt. Der Wind bläst durch ihre schulterlangen, blonden Locken.

Die 23-Jährige wuchs auf einem Hof in Hölstein in Baselland auf. Mit achtzehn Jahren absolvierte sie eine Ausbildung zur Hofmitarbeiterin. «Ich möchte keinen anderen Beruf als jenen der Bäuerin», sagt Lerch bestimmt. Eben hatte sie über den Buechehof geführt, ein ausgewachsener Landwirtschaftsbetrieb mit Vieh, Feldern, einem Garten und eigenem Hofladen. Gleichzeitig ist der Buechehof eine sozialtherapeutische Einrichtung für Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung. Seit drei Jahren arbeitet Lerch nun schon hier. Auf dem Acker gegenüber dem Hofladen erzählt sie, wie sie jeweils mithilft, Kartoffeln und Zuckerrüben zu pflanzen und zu ernten. Im Hofladen zeigt sie in den Kühlschrank und beschreibt, wie sie Joghurt und Quark herstellt und Milch abfüllt. Und auf dem Vorplatz, wo gegenüber dem Silo gerade der hofeigene Traktor parkt, erzählt sie davon, wie sie mit dem Moloch jeweils Gras einfährt.

Am liebsten arbeitet Lerch aber mit den Kühen. Im Stall erklärt sie, wie sie ihnen das Geschirr anlegt, sie melkt, den Stall mistet, die Kühe abschirrt und schliesslich das Geschirr wäscht. Dann kommt sie auf die Kälber zu sprechen, die in einem Gehege daneben untergebracht sind. Geburten von Kälbern hat Lerch schon ebenso viele miterlebt, wie sie Tiere dem Metzger zuführte. Sie zeigt auf eines der Kälber und sagt: «Das ist Andi, der wird als nächstes geschlachtet.» Klar, sei das jeweils traurig. «Aber das vergeht wieder.»

Was heisst unfair?

Nach dem Marsch über den Feldweg in der Wohngruppe Birke angekommen, macht sich Lerch in der Küche daran, ihr Abendessen zuzubereiten: Einen Thonsalat mit Maiskölbchen und einen Teller Hörnli. Sie erklärt ihren gewohnten Tagesablauf: Kurz vor sechs Uhr muss Lerch unter der Woche aus dem Bett, um sieben Uhr beginnt sie auf dem Buechehof. Ob sie denn das manchmal unfair finde? «Was heisst unfair?», fragt Lerch zurück, während sie etwas Bouillon in der Pfanne mit Wasser verrührt. Sie sei glücklich, so wie es ist. «Doch, doch», hängt sie nach einer Denkpause an. Sie finde ihr Leben manchmal schon unfair. «Einfach wenn ich morgens früh aufstehen muss.» Lerch schmunzelt.

Dann erklärt sie weiter ihren üblichen Tag: An den Vormittagen arbeitet Lerch jeweils in der Milchverarbeitung. «Dann freue ich mich immer schon auf den Nachmittag», erzählt sie. Dann nämlich arbeitet sie in der Landwirtschaft. Um fünf Uhr hat sie Feierabend und macht sich auf den Nachhauseweg. «Meist telefoniere ich dann kurz mit meinen Eltern», schildert sie. Das sei ihr wichtig. «Ich erzähle ihnen, was ich den Tag durch gemacht habe.» Habe sie einen schwierigen Tag hinter sich, gehe es ihr danach besser.

Nach dem gemeinsamen Abendessen spielt sie manchmal ein Würfelspiel mit ihren drei Mitbewohnern oder schaut etwas fern. «Danach ziehe ich mich zurück», sagt Lerch. In ihrem Zimmer stöbert sie dann durch You Tube. «Meine Lieblingssendung ist ‹Die Ruhrpottwache›», sagt Lerch, «ein Krimi.» Oder sie legt sich auf ihr Bett und hört Musik: «Troubas Kater» und «Die Halunken» sind Lerchs Lieblingsbands, beides Mundartgruppen. «Ich höre einfach Schweizer Musik», meint Lerch. Die Musik ist ihr wichtig. «Beim Musikhören vergesse ich die Dinge, die mich wütend machen», sagt sie. Davon gäbe es eigentlich vieles. «Gewalt und Menschen, die blöde Sachen über mich sagen», zählt Lerch auf. «Oder wenn die Kühe schwierig tun.»

Oft setzt sich Lerch abends auch an ihren Schreibtisch und schreibt. «Schreiben war schon in der Schule mein Lieblingsfach», erzählt sie. Bis heute führt sie regelmässig Tagebuch.

Einen Monat voraus geplant

Ihren Tagesablauf zu kennen und zeitlich zu organisieren, ist Lerch wichtig. «Ich plane immer rund einen Monat voraus», erklärt sie. Für morgen Nachmittag sei zum Beispiel der Besuch ihrer Schwester geplant, dafür mache sie noch heute Abend ein Schokoladenmousse. Und Ende November gehe sie an ein Konzert von den «Halunken» in Solothurn. An Lerchs Schranktüre in ihrem Zimmer hängen unzählige Fotos von Konzerten und signierte Autogrammkarten ihrer Lieblingsband.

«Und bald ist schon wieder Fasnacht», blickt Lerch nach vorne. Darauf freue sie sich. «Ich bin Baslerin», meint sie achselzuckend. Zur Fasnacht verkleide sie sich jeweils und höre sich die Guggen an. «Die Guggen sind das Beste an der Fasnacht.»

Jedes zweite Wochenende sowie ihre Ferien verbringt Lerch auf dem elterlichen Hof. Dann bauert sie auch dort und kümmert sich um die Einträge auf Agate, einem Onlinewerkzeug des Bundesamts für Landwirtschaft. «Dort wird zum Beispiel eingetragen, wenn ein Kalb geboren oder geschlachtet wird, wie gross es dabei war und ähnliches», erklärt Lerch.

Später will Lerch die Wohnschule antreten, eine mehrjährige Ausbildung. «Dort lernt man, selbstständig einen Haushalt zu führen», erklärt sie. Vielleicht könne sie dann auch alleine wohnen. Und sie wünsche sich, wieder mal mit ihren Eltern in die Ferien zu fahren. «Einfach in der Schweiz, irgendwohin wo es Kühe hat.»

 

...und ausserdem

Diese Person möchte ich gerne mal treffen

Christian Häni, den Leadsänger der Band «Halunken». Ich traf ihn schon mehrere Male nach Konzerten, zuletzt in Bern. Das ist immer etwas besonderes für mich.

So entspanne ich mich am besten

Wenn ich im Bett liege und Musik höre.

Dieses Verhalten ärgert mich

Gewalt. Gewalt, sexuelle Belästigung und wenn ich oder andere unfair behandelt werden.

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