«Ich wusste: Passiert irgendetwas bei uns im KKW, komme ich zum Zug»

Unvergessen Im Januar kann der Lostorfer Hans Rudolf Lutz bei guter Gesundheit und geistiger Frische seinen 90. Geburtstag feiern. Der gebürtige Berner tritt bis heute als Verfechter der Kernenergie in Erscheinung. Von 1967 bis 1979 stand er in Diensten der Bernischen Kraftwerke (BKW), unter anderem als erster Betriebsleiter des Kernkraftwerks Mühleberg.

Hans Rudolf Lutz im Jahr 1978: Er war damals als Betriebsleiter des KKW Mühleberg bei der BKW tätig. (Bild: ZVG)

Hans Rudolf Lutz im Jahr 1978: Er war damals als Betriebsleiter des KKW Mühleberg bei der BKW tätig. (Bild: ZVG)

Hans Rudolf Lutz.

Hans Rudolf Lutz.

Hans Rudolf Lutz wurde 1933 als Sohn eines Postbeamten und einer Hausfrau in einem Aussenquartier der Bundesstadt geboren, ganz in der Nähe der Aare. Als sein Vater Posthalter im Zentrum Berns wurde, zog die Familie Lutz ins Mattequartier um. Hans Rudolf wuchs mit zwei jüngeren Geschwistern auf, einem Bruder und einer Schwester. Er besuchte alle Schulen in Bern, zuletzt das Gymnasium. Er beschreibt seine Kindheit in Bern als «toll», wenngleich er in den Kriegsjahren oft hungrig vom Tisch aufgestanden sei. Den Zweiten Weltkrieg habe er «sehr bewusst» erlebt; er erinnert sich gut an regelmässig auftretenden nächtlichen Fliegeralarm. Nach längerer Militärzeit nahm er sein Studium an der Universität Bern in Angriff. 1959 schloss er das Lizentiat ab, 1961 erwarb er den Doktortitel als Physiker. Nach dem Lizentiat war er ins Eidgenössische Institut für Reaktorforschung im aargauischen Würenlingen eingetreten und hatte mit seiner Familie Wohnsitz in der Region Brugg genommen.

 

«In meiner Freizeit spielte ich Geige im Orchester der Stadt Baden. Nach einem Konzert von uns erschien im ‹Badener Tagblatt›, das ich abonniert hatte, ein furchtbarer Verriss. Wir waren Amateure. Der Schreiber beurteilte uns jedoch, als seien wir Profis. Der Bericht erzürnte mich derart, dass ich das ‹Badener Tagblatt› abbestellte und stattdessen die ‹NZZ› abonnierte. Es dauerte keinen Monat, bis in der ‹NZZ› ein Inserat erschien, in dem die BKW einen Physiker suchte im Hinblick auf den Bau des Kernkraftwerks Mühleberg. Der Zeitplan sah den Spatenstich Anfang 1967 vor, die Inbetriebnahme 1971. Ich bewarb mich und erhielt die Stelle. Schon nach einigen Monaten meldete ich meine Ambitionen an, sagte, dass ich nicht bloss Physiker im Kraftwerk sein, sondern eine leitende Funktion bekleiden wolle. Irgendwann zeichnete sich ab, dass ich das Kernkraftwerk dereinst leiten würde. In den folgenden Jahren baute ich die gesamte Betriebsequipe des KKW Mühleberg auf. Sukzessive stellten wir Leute ein: Schichtpersonal, Handwerker für den Unterhalt, Ingenieure, Physiker, Chemiker.

Im KKW Mühleberg hatten wir zwei Turbinen, gleich wie im Werk Beznau. Die anderen Schweizer Kernkraftwerke haben nur eine. 1971 nahmen die Erbauer der Anlage, die Firmen BBC und General Electric, die erste Turbine in Betrieb. Die beiden Vertragsnehmer mussten gemäss Vertrag beide Turbinen eine Woche lang im Vollbetrieb laufen lassen und so testen. Erst nach diesem Probebetrieb sollte die Verantwortung an die BKW übergehen. Als sie auch die zweite in Betrieb nahmen, brach ein Brand aus. Ein grosser, schlimmer Brand. Ich war involviert in die Ursachenforschung. Gebrannt hatte Öl. Steueröl, um die grossen Ventile steuern zu können. Dieses Öl trat aus einer Verschraubung aus, die sich infolge Vibrationen gelöst hatte. Das Öl tröpfelte auf eine Asbestisolation; durch den Durchzug und die dortige Temperatur begann das Öl zu glühen – und schliesslich wie ein Ölbrenner zu brennen. Es entstanden grosse Schäden am Werk. Dieser Brand im August 1971 sorgte für eine verzögerte Inbetriebnahme um ziemlich genau ein Jahr.

Radioaktivität trat beim Brand keine aus. Aber es fehlte nicht viel. Dank der Betriebsfeuerwehr, die zuvor bereits gut ausgebildet worden war, kam es zum Glück nicht dazu, dass sich der Brand ins Reaktorgebäude hätte ausbreiten können. Ob Radioaktivität an die Umwelt abgegeben worden wäre, wenn das der Fall gewesen wäre, ist hypothetisch. Da gibt es ganz viele mögliche Szenarien. Würde heute ein solcher Vorfall passieren, wüsste das sofort die ganze Welt. Damals veröffentlichte die BKW unmittelbar danach ein Communiqué zum Vorfall – und ich erhielt in der Folge genau zwei Anfragen. Eine vom ‹Blick›, eine aus Schweden. Das war alles! Nach zwei Tagen wurde nicht mehr darüber berichtet.

Ein Jahr später spielten die Erbauer die Inbetriebnahme nochmals durch, mit allen notwendigen Tests. Die Sicherheitssysteme wurden auf Herz und Nieren geprüft. Danach wurde ein Übergabedokument von den beiden Erbauerfirmen an die Betreiberin BKW übergeben. Ich erinnere mich gut an diesen ersten Abend: Da habe ich schon etwas intensiver darüber nachgedacht, dass die Verantwortung nun bei mir lag… Ich wusste: Passiert irgendetwas bei uns im KKW, komme ich zum Zug. Die Verantwortung betraf viele Leute, und es gab seinerzeit weltweit noch sehr wenig Erfahrung im Umgang mit Kernkraftwerken. Aber es bestand dennoch bereits ein Netzwerk, es gab zum Beispiel einen Erfahrungsaustausch mit KKWs in Nordamerika. In der Schweiz waren beim Start Mühlebergs erst Beznau 1 und 2 in Betrieb.

In der Folgezeit verlief der Betrieb in Mühleberg unter meiner Ägide fast ohne Zwischenfälle. Das Schlimmste war ein Todesfall bei Revisionsarbeiten. Der schlimme Unfall passierte bei uns, betroffen war allerdings ein Mitarbeiter einer externen Firma. Und einmal trat tatsächlich Radioaktivität aus, vor allem Jod. Eine Wiese wurde radioaktiv verseucht. Das Gras musste gelagert werden, und nach rund 160 Tagen war die Radioaktivität so stark abgeklungen, dass es nicht mehr schädlich war. Jod hat eine Halbwertszeit von acht Tagen.

Zu Beginn meiner Tätigkeit herrschte eine sehr positive Stimmung gegenüber der Kernenergie. Die grössten damaligen Kraftwerkbetreiber NOK, BKW und Atel sahen sich mit einem grossen Widerstand gegenüber neuen Wasserkraftwerken konfrontiert. Es hätte zum Beispiel dem Rhein entlang eine Reihe neuer Kraftwerke gebaut werden sollen. Doch die erste Generation Umweltschützer wehrte sich dagegen. Die Stromfirmen propagierten als Alternative Ölkraftwerke. Es war vorgesehen, auf dem Jolimont ein Ölkraftwerk zu bauen und dort Altöl aus der Raffinerie Cressier zu verbrennen. Die gleichen Umweltschützer lehnten auch das ab und sprachen sich stattdessen für den Bau von Kernkraftwerken aus. Aus heutiger Sicht kaum vorstellbar! Als die ersten Kernkraftwerke in der Schweiz gebaut wurden, herrschte eine grosse Euphorie.

Mitte der 70er-Jahre begann der Wind zu drehen. Ein deutscher Autor publizierte ein Buch namens ‹Morgen holt dich der Teufel›. Das war das erste Anti-Kernkraftwerkbuch. Gesponsert – davon bin ich nach wie vor überzeugt – von der Kohle-Lobby. Diese spürte Konkurrenz und wollte Gegensteuer geben. Die Kohle-Lobby ist im Prinzip die Verantwortliche für den Beginn der Anti-Kernkraftbewegung. In der Folgezeit entstand die grüne Ideologie, die sich das Thema Kernenergie einverleibte.»

 

1979 verliess Lutz die BKW und arbeitete sieben Jahre für die BBC, ab 1986 für die Atel. Er war eingestellt worden, um das Kernkraftwerk Kaiseraugst bei Basel zu bauen. An der Pressekonferenz, an der die Pläne der Öffentlichkeit hätten präsentiert werden sollen, musste Lutz allerdings fast nur über «Tschernobyl» reden. Kurz zuvor, am 26. April 1986, hatte sich die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl ereignet. Das KKG Kaiseraugst wurde nie gebaut. Ab 1991 stand Lutz im Sold der NOK und errichtete für diese das Zwischenlager für radioaktive Abfälle Zwilag. Nach dessen Inbetriebnahme 2001 liess sich Lutz pensionieren, mit 68 Jahren. Lutz ist seit 1985 in zweiter Ehe verheiratet und lebt seit 1990 in Lostorf. Aus erster Ehe hat er zwei Söhne und zwei Töchter. Er war auch politisch aktiv. Von 1978 bis 1987 sass er für die FDP im Berner Grossrat. 1992 gründete er in Lostorf die Ortssektion der SVP, die er von 1997 bis 2013 im Solothurner Kantonsrat vertrat. Bis heute meldet er sich im öffentlichen Diskurs hin und wieder als starker Befürworter der Kernenergie zu Wort – gerade auch hinsichtlich der Bekämpfung der Erderwärmung. Atomkraftwerke seien die Lösung für die globale CO2-Problematik. Hans Rudolf Lutz, der unter anderem Russisch und Japanisch spricht, unterrichtet Englisch, macht gerne Haus- und Gartenarbeit, liest viel und spielt hin und wieder eine Partie Schach. Im Januar wird er 90 Jahre alt.

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