«Ich weiss, dass ich nichts weiss»

Brigitte Niederer ist als Kinderärztin mit «Dr. Google» konfrontiert, arbeitet im Dreiecksverhältnis, bezeichnet ihre Mutter als Vorläuferin von Wikipedia und ist überzeugt, dass alles seine Zeit hat.

Klagemauer, Beraterin, Tüftlerin und Detektivin mit dem Spitznamen «Sherlock Holmes»: Brigitte Niederers Tätigkeit als Kinderärztin umfasst verschiedene Rollen und Aufgaben. (Bild: Sonja Furter)
Klagemauer, Beraterin, Tüftlerin und Detektivin mit dem Spitznamen «Sherlock Holmes»: Brigitte Niederers Tätigkeit als Kinderärztin umfasst verschiedene Rollen und Aufgaben. (Bild: Sonja Furter)

Warum sitzt dieser Mensch gerade jetzt, gerade heute, gerade vor mir? Diese Fragen solle ein Arzt sich stellen, wenn er einen Patienten behandle. So zumindest der Rat von Kinderärztin Brigitte Niederer an angehende Mediziner. «Sich diese Warum-Fragen zu stellen, ist bereits ein wichtiger Schritt hin zur Diagnose.» Seit achtzehn Jahren betreibt Niederer in Olten eine Kinderarztpraxis und hat schon manchen Säugling bis zur Volljährigkeit begleitet. «Das Spannende an der Kindermedizin ist für mich die Dreiecksbeziehung. Ich verhandle mit den Eltern, behandle aber das Kind als Patienten.» Zur Medizin selbst sei sie eher durch Zufall gekommen. «In den ersten Primarschuljahren wollte ich Gärtnerin werden und Unkraut ausreissen. Später war Kindergärtnerin mein Berufswunsch», verrät Niederer und schmunzelt: «Ich wollte immer noch Gärtnerin werden, einfach für Kinder und nicht für Pflanzen.» Das Lesen einer Biografie über den Arzt und «Urwalddoktor» Albert Schweizer weckte schliesslich ihr Interesse für die Medizin. Dass viele ihr als Frau das anspruchsvolle Studium nicht zugetraut hätten, spornte sie zusätzlich an. «So kam es, dass ich mich an der Uni eingeschrieben habe.»

111 oder 079?

Aufgewachsen ist Brigitte Niederer als Jüngste von drei Schwestern in Solothurn. Ihr Vater hat als Apotheker in seinem Geschäft selber Salben hergestellt, die Mutter war Telefonistin bei der Auskunft 111. «Dies erinnert mich an den Sommerhit «079» von Lo und Leduc. Dieses Lied finde ich sehr witzig.» An der Uni hatte Niederers Mutter dem Vater jeweils die Vorlesungen abgetippt. «Dadurch hatte sie ein grosses Wissen, auch wenn sie selber nicht die Möglichkeit hatte, zu studieren.» Die Enkelkinder griffen denn auch zum Telefon mit dem Hinweis «Mir lüüted em Grosi aa», wenn sie einen Begriff im Kreuzworträtsel nicht wussten. «Meine Mutter als wandelndes Lexikon war wohl eine Vorläuferin von Wikipedia.»

«Dr. Google» und «Die Zeit»

Um ihr Leben zu beschreiben, zitiert Niederer sowohl die Bibel, wie auch den Philosophen Sokrates. «Alles hat seine Zeit. Davon bin ich überzeugt. Der Mensch denkt, er wisse alles. Dabei müsste er vor allem wissen, dass er nichts weiss», so die 56-Jährige, die in ihrer Freizeit gerne auf Reisen geht, neue Orte entdeckt oder Rezepte nachkocht. Auch ist Niederer treue Leserin der Wochenzeitung «Die Zeit». «Die Zeitungsblätter sind zwar riesig, aber ich habe gelernt, wie ich sie zu einem handlichen Format falten kann.» Durch die Digitalisierung und «Dr. Google» habe auch der Arztberuf in den letzten Jahren eine starke Veränderung erfahren. «Oftmals weiss der Patient mehr als der Arzt und hat bereits alle Differenzialdiagnosen nachgeschlagen, wenn er zum Termin kommt.» Trotzdem hat Niederer ihre Berufswahl nie bereut. «Als Kinderärztin brauche ich sowohl mein Wissen wie auch das praktische Handwerk.» Die verschiedenen Rollen gefallen ihr ebenfalls an ihrem Beruf. «Ich bin Klagemauer, Beraterin, Tüftlerin oder Detektivin.» Die richtige Diagnose zu stellen sei für sie eine spannende Herausforderung. «Mein Spitzname «Sherlock Holmes» kommt nicht von ungefähr.»

Doktortitel im Keller

Seit über 28 Jahren wohnt Niederer mit ihrem Ehemann in Olten. Hier fühlt sie sich inzwischen zu Hause. «Einzig die Unterschiede zwischen den zwei Stadtseiten finde ich immer noch frappant.
Ich habe nicht gewusst, dass ein Fluss eine Stadt so stark trennen kann.» Wenn sie durch Olten schlendere, werde sie oft von Menschen gegrüsst. Wenn sie jedoch würdigend mit «Frau Doktor» angesprochen werde, sei das für sie eher störend. «Alle Menschen kommen gleich zur Welt und gehen auch gleich von der Welt», betont Niederer. Ihren Doktortitel hat sie zwar in Gold eingerahmt, aber im Keller deponiert. «Dort hat er in all den Jahren Staub angesetzt.» Für die Zukunft zieht es Niederer in die Ferne. Aber nicht nur nach Bern, sondern gar auf andere Kontinente. Zusammen mit ihrem Ehemann hat sie zu diesem Zweck einen alten T1-VW-Bus gekauft. Kennen gelernt haben sich die beiden vor über dreissig Jahren in Bern. «Er ist der Bruder einer guten Freundin von mir. Als sie bei mir zum Kaffee-Trinken eingeladen war, ist er auch spontan dazugestossen.» Und hat fortan jeden Abend vor Niederers Haustüre gestanden. Unglaublich hartnäckig sei er gewesen. «Er wollte halt unbedingt mein Herz erobern. Einmal hat er mich mit einem Rohdiamanten verglichen, den er nur noch habe schleifen müssen.»

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