«Ich han d’ Schnorre voll gha vom Bettle»

Christoph Birrer ist der «Papa» vom Street Soccer Turnier. Im Gespräch erzählt er, wie er vom Malen zur Kultur und von der Strasse zur Schützi gekommen ist.

Durch die «Schützi» in Olten hat er wieder ins Berufsleben zurückgefunden. Christoph Birrer posiert vor dem Kulturlokal, das ihm zu einer zweiten Heimat geworden ist. (Bild: S. Furter)
Durch die «Schützi» in Olten hat er wieder ins Berufsleben zurückgefunden. Christoph Birrer posiert vor dem Kulturlokal, das ihm zu einer zweiten Heimat geworden ist. (Bild: S. Furter)

Die knallblau gefärbten Locken kräuseln sich auf der Stirn und sind etwas zerzaust vom Wind. Christoph Birrers Haarfarbe ist ein Rebellieren gegen «das System». «Grün und Rot hatte ich auch schon auf dem Kopf. Meine Haarfarbe ist ein Ausdruck dessen, was ich im Herzen habe», sagt der 37-Jährige mit der Punk-Seele und der bewegten Vergangenheit. «Ich habe keine Probleme mit dem Arbeiten, aber ich will nicht 0815 aussehen.» Nach seiner Lehre als Maler hat Birrer als junger Mann mehrere Jahre in besetzten Häusern, bei Freunden und auf der Strasse gelebt. Seinen Lebensunterhalt hat er in dieser Zeit mit Betteln und später mit dem Verkauf des Strassenmagazins «Surprise» bestritten. «Geld, um die Haare zu färben, hatte ich auf der Strasse oft nicht», erzählt er und ergänzt mit Blick auf diese Zeit: «Ein Bier und ein Joint nach Feierabend werden mir ein Leben lang bleiben. Ganz ohne kann ich nicht.»

Das Kästli räumen

Geboren und aufgewachsen ist Christoph als zweiter Sohn der Familie Birrer in Obergösgen. Nach der Trennung vom Vater arbeitete die Mutter wieder als kaufmännische Angestellte. Damals war Christoph in der ersten Klasse. «Obwohl meine Mama so viel gearbeitet hat, konnte sie Ende Monat kaum ihre Rechnungen bezahlen.» Eine Sprache für diese Ungerechtigkeit fand Birrer in der Punk-Musik. «Die Texte haben mit meinem Leben zu tun, drücken aus, was ich denke und fühle. Ich wollte mein eigenes Ding machen, gegen den Staat rebellieren.» Nach der Schule absolvierte er eine Lehre als Maler. «Das ging irgendwie.» Doch als er sich als Angestellter nach durchgefeierten Nächten drei Mal in derselben Woche verschlief «musste ich mein Kästli räumen».

Frei sein

Birrer zog durch die Schweiz, freundete sich mit Punks in St. Gallen an. «Irgendwann konnte ich die Miete meines Zimmers in Olten nicht mehr bezahlen.» Er übernachtete bei Kollegen, fand Unterschlupf in besetzten Häusern oder schlief im Sommer draussen auf der Strasse. «Irgendwo habe ich immer einen Platz für die Nacht gefunden.» Eine Dose Prix-Garantie-Bier gehörte fortan zu seinem Alltag. Seinen Lebensunterhalt verdiente er sich mit Schnorren. Mit der Zeit habe er ein Gefühl dafür entwickelt, welche Menschen er «anhauen» könne und welche ihm sowieso nichts geben würden. Frei sei er gewesen, damals, auf der Strasse. «Aber ich habe auch Schlägereien erlebt. Ich habe viele Leute in Olten sterben sehen.»

Dritte Wahl

Im Jahr 2002 trat Hündin «Lovis» in Christoph Birrers Leben. Lovis war an seiner Seite, wenn er Leute um Geld anbettelte. Sie war an seiner Seite, als er später das Strassenmagazin «Surprise» verkaufte, weil «ich d’ Schnorre voll gha han vom bettle.» Sie war an seiner Seite, als er einmal jährlich die grosse Bühne in der Schützi aufbaute. «In Olten kannten mehr Leute meinen Hund als mich», sagt er. Lovis. Eine Appenzeller-Schäferhund-Mischung, benannt nach der Mutter von Ronja Räubertochter. Am Tag bevor sie vergangenes Jahr eingeschläfert werden musste, hörte Birrer ein Lied der Punkband «Dritte Wahl.» Der Verlust schmerzt ihn noch immer. «Es ist brutal hart. Keine menschliche Beziehung kann dir die Freundschaft zum Hund ersetzen.»

«Angemischelt»

Der Anfang vom Ausstieg aus dem Leben auf der Strasse kam mit einem Mitarbeiter der Suchthilfe. «Ich habe ihn angemischelt», erzählt Birrer. Doch statt Münz bekam er einen temporären Job. So kam Birrer zur Schützi und das Kulturlokal zu ihm. «Durch die Schützi habe ich meine ersten Schritte zurück ins Berufsleben gemacht.» Heute hat er eine Wohnung und einen festen Job in Luzern und Olten. «Ich habe gemerkt, dass es ohne Arbeit nicht geht. Ohne Arbeit würde ich mich kaputtmachen. Ich brauche eine Beschäftigung.» Ebenfalls seiner Lebens- geschichte geschuldet ist die Existenz des «Street Soccer Turniers» in Olten. «Fussball spielen und Bier trinken», lautet das Motto des Plausch-Turniers. Er als Punk hatte es für «seine» Leute organisiert. «Ich bin Pseudo-Trainer des Teams Olten.» Als «Papa» des Street Soccer Turniers ist Birrer auch der Kopf des Vereins «und derjenige, der den Kopf hinhalten muss», wie er lachend ergänzt. «Der Moment, wenn der Ball über den Vorplatz flitzt und alle zufrieden am Fussball spielen sind, das ist mein grösster Lohn.»

Die Ärzte

Mit Olten verbindet ihn neben der Schützi und dem Street Soccer Turnier vor allem die Tatsache, dass er in der Region aufgewachsen ist. «Die Dreitannenstadt ist meine Heimat.» Eishockey- matches schauen, Fussball spielen, Musik hören, «Gumiböötle» zum Abschalten oder in der Aare schwimmen gehen sind Hobbies von ihm. «Ich mag es auch, auf dem Sofa zu liegen und nichts zu tun.» Sein ganzes Leben lang habe er sich gewünscht, einmal ein eigenes Kultur-lokal zu haben. Ganz ist Birrers Traum nicht in Erfüllung gegangen, aber fast. «Ich bin dankbar, dass ich in der Schützi kulturell arbeiten kann.» Jedoch einen Wunsch hat er noch: «Dass die deutschen Bands «Die Ärzte» und «Die Toten Hosen» in der Schützi ein Konzert geben. Oder noch besser, dass hier in der Region ein dreitägiges Punk-Festival stattfindet.»

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