Hilfe ja - Bemutterung nein danke

Tag des weissen Stockes Die sehbehinderte Obergösgerin Karin Heimberg meistert ihren Alltag trotz Handicap seit Jahrzehnten selbstständig und erklärt, wie ihr die Gesellschaft bei dieser Herausforderung behilflich sein kann.

Die weissen Leitlinien stellen für blinde und sehbehinderte Menschen eine wertvolle Orientierungshilfe dar und müssen frei von Fremdgegenständen bleiben. (Bild: ZVG)

Die weissen Leitlinien stellen für blinde und sehbehinderte Menschen eine wertvolle Orientierungshilfe dar und müssen frei von Fremdgegenständen bleiben. (Bild: ZVG)

«Obwohl Chad kein Führhund ist, gibt er mir Sicherheit als Begleiter», so Karin Heimberg, die seit ihrer Geburt an einer schweren Sehbehinderung leidet. (Bild: vwe)

«Obwohl Chad kein Führhund ist, gibt er mir Sicherheit als Begleiter», so Karin Heimberg, die seit ihrer Geburt an einer schweren Sehbehinderung leidet. (Bild: vwe)

Als Internationalen Tag des Weissen Stockes nutzen Blindenverbände auf der ganzen Welt den 15. Oktober, um auf die Lebenssituation von sehbehinderten oder blinden Menschen aufmerksam zu machen. In diesem Jahr hat der Schweizerische Blindenbund den thematischen Fokus vor allem auf die weissen taktilen Leitlinien gelegt, die beispielsweise an Bahnhöfen zu finden sind. Von gut sehenden Fussgängern oft übersehen, sind diese Linien für die zirka 325’000 schwer sehbehinderte Menschen in unserem Land wichtige Hilfsmittel, um sich im öffentlichen Raum zurecht zu finden. Eine von ihnen ist die Obergösgerin Karin Heimberg.

Seit der Geburt fast blind

Geschickt balanciert die zierliche Frau die zwei Kaffeetassen durch ihre helle Wohnung, setzt sich zu mir und blickt mich aufmerksam an. Keine Spur von Unsicherheit und keinerlei Hinweise auf irgendein Handicap. Darauf angesprochen, lacht Karin Heimberg auf. «Diese Feststellung höre ich oft. Da ich noch knapp 3 bis 4 % Sehstärke besitze, kann ich meinem Gegenüber während der Konversation in die Augen schauen, erkenne aber höchstens Umrisse.» So könne sie mir zwar mitteilen, dass ich dunkle Haare habe, die Augenfarbe ihres jeweiliger Gesprächspartners, sei für sie jedoch völlig schleierhaft. Seit ihrer Geburt ist Heimberg schwer sehbehindert. Die Ursache für ihre Beeinträchtigung ist genetisch bedingt. Obwohl ihre Eltern gut sehend sind, führte die Vermischung ihrer beiden erblichen Veranlagungen sowohl bei Karin Heimberg als auch ihrer jüngeren Schwester zum Handicap. «Meine Mutter hatte lange Zeit grosse Mühe, mit unserer Behinderung umzugehen. Noch heute meint sie, dass sie uns am liebsten je ein gesundes Auge schenken würde.»

«Es fehlen Leitlinien in Olten»

Karin Heimberg selbst konnte mittlerweile Frieden mit ihrer Behinderung schliessen. Das sei jedoch nicht immer so gewesen. «Besonders in der Pubertät wollten meine Schwester und ich um jeden Preis verhindern, dass jemand unsere Beeinträchtigung bemerkt», erinnert sich die Obergösgerin und fügt schmunzeln an: «Wir lasen teilweise gar demonstrativ Bücher im Zug, bis uns eines Tages jemand fragte, ob wir eigentlich gerne auf dem Kopf lesen.» Auch heute noch bleibt Heimberg lieber unauffällig. Daher benützt sie im öffentlichen Raum keinen weissen Blindenstock. «Solange ich mich ohne Stock zurecht finden kann, möchte ich dies weiterhin so fortführen. Nicht nur aus Eitelkeit, sondern auch aus praktischen Gründen.» Nichtsdestotrotz orientiert sich Heimberg auch ohne weissen Stock gerne an den Leitlinien und geht bewusst auf diesen. «Sie geben sehbehinderten sowie blinden Menschen Sicherheit und sind besonders an Orten mit erhöhten Anforderungen, wie beispielsweise viel Fussgängerverkehr, essenziell wichtig.» Leider fehlen die weissen taktilen Linien aus Kaltplastik noch an gewissen Plätzen. Im Oltner Bahnhof ist beispielsweise das Leitsystem zwar auf den Perrons zu finden, in den Unterführungen jedoch nicht. «Ich habe blinde Kolleginnen, die deshalb Mühe haben, sich hier zurecht zu finden.» Ausserdem sind die Leitlinien teilweise versperrt. «Einige sehenden Fussgänger oder auch Ladenbesitzer sind sich der Existenz der Linien nicht bewusst und stellen teilweise ihre Gepäckstücke sowie Werbetafeln auf diesen ab. Das kann zu gefährlichen Situationen führen.» Auch dass in den Begegnungszonen der Oltner Innenstadt die Fussgänger- streifen mit roten Flächen ersetzt wurden, ist nicht ideal für sehbehinderte Menschen. «Die gelben Streifen sind viel besser erkennbar als grosse einfarbige Flächen. Daher fehlt jetzt der Anhaltspunkt.»

«Hilfe nehme ich gerne an»

Wenn Karin Heimberg fremde Ortschaften besucht, lässt sie sich den Weg genaustens erklären und fragt ab und an bei Passanten nach. «Hilfe nehme ich immer gerne an. Bemutterungen sind jedoch nicht erwünscht», stellt sie klar. Schliesslich wolle sie als mündige Erwachsene wahr- genommen werden. Diesen Grundrespekt vor Mitmenschen habe sie auch ihren drei gut sehenden und mittlerweile erwachsenen Kindern mit auf den Lebensweg gegeben. «Sicherlich war die Erziehung als sehbehinderte Mutter nicht immer einfach, aber wir konnten uns stets arrangieren.»

Austausch fördern

Um den Austausch zwischen sehenden und blinden bzw. sehbehinderten Menschen zu fördern, ist Karin Heimberg seit 14 Jahren im Zürcher Dunkelrestaurant blindekuh als Serviceangestellte tätig. «Einmal die Welt aus der Perspektive eines Blinden zu sehen und die Hilflosigkeit an eigener Haut zu erfahren, öffnet vielen Menschen die Augen. Das ist eine bereichernde zwischenmenschliche Erfahrung», so Heimberg. Auch am diesjährigen Internationalen Tag des Weissen Stockes soll der Austausch gefördert werden. Karin Heimberg und weitere Mitglieder der Regionalgruppe Nordwestschweiz vom Schweizerischen Blindenbund klären Sie daher am kommenden Samstag, 15. Oktober im Bahnhof Aarau von 13 bis 15 Uhr über das Thema «Leitlinien» auf.

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