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Serie zur Freiluftausstellung «CH-4656 IM BLICK» Der Stadtanzeiger publiziert wöchentlich einen ausgestellten Text von einer Autorin/einem Autor und ein Foto eines Fotografen, der bei der Freiluftausstellung in Starrkirch-Wil mitgewirkt hat.

Der Fotograf Hansruedi Aeschbacher widmete sich den Zäunen und Hecken in Starrkirch-Wil. (Bild: Hansruedi Aeschbacher)
Der Fotograf Hansruedi Aeschbacher widmete sich den Zäunen und Hecken in Starrkirch-Wil. (Bild: Hansruedi Aeschbacher)

Hier bin ich aufgewachsen, hier komme ich her. Hier ist jede Kurve, jeder Baum, jedes Haus eine Erinnerung und eine Lektion fürs Leben.

Hier habe ich gelernt, was Freundschaft ist. Zuerst begegnete sie mir im Kindergarten, den es nicht mehr gibt. Die Freundschaft trug einen blauen Pullover mit einem Milchshake drauf und stellte eine Frage, die ich nicht verstand: Wollen wir Freundinnen sein? Ich wusste nicht, was Freundschaft ist, aber ich sagte ja. Später dann habe ich gelernt, dass Freundschaft kein Vertrag ist, den man willentlich schliesst. Sie ist oder sie ist nicht. Sie hatte nun die Gestalt einer erbitterten Rivalität: Ich rang um sie und mit ihr. Sie war ein Sandschloss, gebaut aus klüger, schneller, besser, das zerfiel, sobald wir nicht mehr in dieselbe Klasse gingen. Sie war eine Reihe von Verletzungen, die ich davontrug, weil ich sie mit einem Absolutheitsanspruch lebte und nach einer Gegenseitigkeit verlangte, die sich nie erfüllte. Ich verleugnete mich zum ersten Mal, weil ich sie bewunderte und auf keinen Fall verlieren wollte. Ich verlor sie schliesslich doch.

Hier habe ich gelernt, was Armut ist, im anderen, tiefer gelegenen Teil dieses zweigeteilten Dorfes. Sie war ein Kindergeburtstag mit Pommes und Power Rangers in einer Stube, in der unsere Klasse – wir waren zehn – nur gerade so Platz fand.

Hier habe ich gelernt, was es heisst, unvorbereitet von etwas getroffen zu werden, über die Massen überrascht zu sein, und was Neid ist: als ich mich dort, in diesem Blumenbeet wiederfand, in das sie mich gestossen hatten, weil ich klüger war als sie, besserwisserisch wohl auch.

Hier habe ich gelernt, was Hoffnung ist, was Verdrängung und später was Leid. Auf dieser Bank haben wir über den Tod gesprochen, mein Freund und ich, über ihr Sterben und den Tod, der absehbar war, der ihn dann aber dennoch fassungslos liess. Ich konnte wenig für ihn tun, obwohl diese Freundschaft gegenseitig war und tief und ich ich sein konnte in ihr. Wir sehen uns nur zufällig noch und freuen uns dann: Wir kennen uns ein ganzes Leben. Er kommt auch von hier. Fiona Gunst

 

Zur Autorin:

Fiona Gunst, geboren 1985 in Bern, aufgewachsen in Starrkirch-Wil. Nach der Matur an der Kantonsschule Olten studierte sie Theaterwissenschaft und Germanistik an der Universität Bern und der Freien Universität Berlin und arbeitete als freie Journalistin. Inzwischen hat sie das Lehrdiplom für Deutsch an Maturitätsschulen in der Tasche und wird demnächst ihre Doktorarbeit zu Ingeborg Bachmann fertigstellen, die sie an den Universitäten Bern und Gent (Belgien) geschrieben hat. Sie reist gerne in ferne Länder, kocht leidenschaftlich und freut sich darauf, bald wieder in ihrer Freizeit lesen und schreiben zu können und nicht mehr vornehmlich beruflich mit Literatur befasst zu sein.

Zum Fotograf:

Hansruedi Aeschbacher, 1951, kam als Quereinsteiger zur Fotografie. Der gelernte Offsetdrucker fotografierte als freier Fotograf ab 1975 für das Oltner Tagblatt und die Familienzeitschrift «Sonntag» aus dem Walter Verlag Olten. 1978 erfolgte die Festanstellung bei der Dietschi AG, der Herausgeberin des Oltner Tagblatts. Dem Oltner Tagblatt blieb er bis zu seiner Pensionierung Ende 2015 treu. Er wohnt in Egerkingen. Hansruedi Aeschbacher stellte seine Bilder an zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen aus. 2011 gestaltete er das Plakat der Tanztage Olten. Er wurde auch mehrfach ausgezeichnet: unter anderem «Sportfotograf des Jahres 1985», Medienpreis Aargau-Solothurn im 2011. Im Jahre 2010 wurde Hansruedi Aeschbacher in die Fachkommission Foto und Film des Solothurnischen Kuratorium gewählt.

 

CH-4656 im Blick
Vom 7. Juli bis 22. September präsentiert die Kulturstiftung Starrkirch-Wil die Freiluftausstellung «ch-4656 im Blick». Sechs bekannte Persönlichkeiten aus der Region brachten ihre Gedanken über die Gemeinde aufs Blatt, während sich sechs namhafte Fotografen mit der Oltner Nachbars- gemeinde auseinandersetzten. Die Texte und Fotografien sind entlang des Kreuzweges in Starrkirch-Wil zu sehen. Der Stadtanzeiger Olten veröffentlicht wöchentlich bis Ende August jeweils einen Text und ein Bild.
<link http: www.4656.ch _blank>www.4656.ch

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