«Fliegeralarm! Sofort in den Keller!»
Unvergessen Der heute 90-jährige Oltner Kurt Stocker erlebte die Zeit des Zweiten Weltkrieges mit. Sehr lebhaft erinnert er sich an den Tag des Absturzes einer führerlosen «Fliegenden Festung» bei Trimbach im Februar 1945.
In der Wohnung oberhalb des Restaurants Alpenrösli an der Baslerstrasse in Olten wurde Kurt Stocker am Ostersonntag 1931 geboren. Er wuchs als einziger Sohn des dortigen Wirtepaares auf. Seine Mutter war Hausfrau, sein Vater arbeitete neben der Wirtshausführung zusätzlich als Hilfsdrucker. Kurt Stocker erinnert sich an eine recht unbeschwerte Kindheit. Da noch kaum Autos verkehrten, habe er mit seinen Kameraden oft auf den Strassen herumrennen oder zum Beispiel auf dem Munzingerplatz Rollhockey spielen können. Als das Deutsche Reich am 1. September mit dem Überfall auf Polen den Zweiten Weltkrieg auslöste, wurde Kurt Stockers Vater noch gleichentags in den Militärdienst eingezogen.
«Ende 1939 zogen wir um in eine Wohnung an der Ringstrasse. Mein Vater arbeitete ab da in Schönenwerd in der Trikotfabrik Nabholz in der hauseigenen Druckerei. Das ‹Alpenrösli›, damals ausserhalb der Stadt gelegen, hatte nicht rentiert. Meine Eltern zahlten jahrelang Schulden zurück. Noch heute staune ich über meine Eltern, wie sie es schafften, mit derart wenig Geld auszukommen. Luxus lernte ich nie kennen. Wir lebten in aller Bescheidenheit, sehr spartanisch. Es gab einfach kein Geld. Und die Lebensmittel waren damals rationiert. Jeden Monat mussten wir auf dem Arbeitsamt Lebensmittelkarten holen gehen. Nur damit konnten wir das Lebensnotwendige kaufen. Aber Hunger leiden mussten wir nie. Überhaupt nicht. Im Herbst zum Beispiel machten einige Buben mit mir Raubzüge auf Früchte an Obstbäumen. Nie mehr habe ich so gute Birnen gegessen wie damals. Wir waren Lausbuben, keine Schäfchen.
Mein Vater wurde gleich zu Beginn des Krieges eingezogen. Er war damals 39 Jahre alt. Eine Zeitlang wirkte er als Lagerkommandant von internierten Polen in Riniken bei Brugg. Meistens war er aber in der Nähe stationiert. Nach einigen Monaten im Dienst kehrte er jeweils an den Arbeitsplatz bei der Firma Nabholz zurück.
Der Krieg war für uns Kinder damals nicht sehr präsent. Manchmal defilierten Militärangehörige vorbei. Damals trugen noch alle Soldaten Nagelschuhe, und wenn die marschierten, tönte das sehr eindrücklich. Alle in Uniform, mit dem aufgesetzten Stahlhelm, das Gewehr in der Hand und das Bajonett auf der Seite. Diese Bilder sehe ich noch heute vor meinem geistigen Auge. Selten fuhren auch Militärcamions vorbei. Bei diesen Gelegenheiten ging man natürlich auf die Strasse, um das zu sehen. Aber mitbekommen haben wir nicht allzu viel vom Krieg. Es gab ja nur Radio, kein Fernsehen.
Im weiteren Verlauf des Krieges gab es ein paarmal einen Fliegeralarm. Das war, als die Alliierten in Deutschland Fliegerangriffe flogen und dann auf 10000 Metern Höhe mal auf Schweizer Territorium vorstiessen. Aber die wollten der Schweiz ja keinen Schaden zufügen. Später wurde dann irrtümlich Schaffhausen bombardiert. Und am Dienstag, 27. Februar 1945, stürzte beim Isebähnli in Trimbach ein Flugzeug ab. Das war eine ‹Fliegende Festung›, die über deutschem Gebiet getroffen worden war und dann per Autopilot führerlos bis in die Schweiz flog, ehe sie von der Schweizer Luftwaffe unter Beschuss genommen wurde und schliesslich in der Nähe des Isebähnli in Trimbach abstürzte.
Ich sass an jenem 27. Februar nachmittags um 3 Uhr im Frohheimschulhaus in einer Französischstunde. Unsere Lehrerin, die immer Schriftdeutsch mit uns sprach, schrie: ‹Fliegeralarm! Sofort in den Keller! Buben, steht auf!› Wir schauten zuerst aus dem Fenster. Man hörte ein Brummen. Die Lehrerin stauchte uns regelrecht zusammen und befahl uns, sofort den Keller aufzusuchen. ‹Bombenalarm!› So gingen wir also in den Keller, bis der Alarm vorbei war. Warum, weiss ich bis heute nicht. Wenn es einen Angriff gegeben hätte, wären wir im Keller kaum besser geschützt gewesen. Luftschutzbunker gab es ja noch nicht.
Nach der Schule, so gegen 4 Uhr, setzten wir Buben uns auf die Velos. Zwischenzeitlich war bekannt geworden, dass oberhalb von Trimbach ein Flugzeug abgestürzt war. Wir fuhren dort hin. Doch es war alles abgesperrt: Die Feuerwehr war vor Ort, die Polizei war vor Ort, auch die Armee war bereits da. Gesehen haben wir gar nichts. Die abgestürzte ‹Fliegende Festung› war ein Flugzeug der US Army. Beim Stichwort Amerika erstarrten damals alle in Ehrfurcht: ein Riesenland, sehr weit weg. Für uns war das sehr beeindruckend.»
Zwei Jahre nach Kriegsende, 1947, begann Kurt Stocker eine dreijährige KV-Lehre bei einer Baumaschinenfirma in Olten. Zu Beginn der Lehre verdiente er 25 Franken pro Monat, arbeitete sechs Tage pro Woche und hatte pro Jahr zwei Wochen Ferien. Dank Vermittlung seines Onkels bekam er nach der Lehre eine Arbeitsstelle bei der Ersparniskasse Olten, die 1992 von der Schweizerischen Kreditanstalt (heute Credit Suisse) geschluckt werden sollte. Anfänglich arbeitete Stocker als Hilfskassier, «ohne dass eine dauerhafte Anstellung in Betracht gezogen wird», wie es damals im Anstellungsvertrag geheissen habe. Nach einem gut zweijährigen Abstecher auf eine Lausanner Bank und Dienstzeit bei der Schweizer Armee kehrte er zur EKO in Olten zurück. Nach wenigen Jahren wurde er Chefkassier und blieb dies fast 40 Jahre lang. In der Armee brachte es Stocker bis zum Wachtmeister. Lange Jahre diente er in Olten auch in der Feuerwehr und im Zivilschutz. 1959 heiratete Stocker die Trimbacherin Mirjam Grüter. Das Paar hat zwei Söhne. Stocker war schon mehr als 20 Jahre alt, als er erstmals kurz im Ausland war. Später reiste er sehr viel. Er hat 110 Länder in allen Kontinenten besucht. Weitere Steckenpferde Stockers sind oder waren das Sammeln von Zinnfiguren, das Fotografieren und Oltner Geschichte. Zudem war der heute 90-Jährige lange aktiver Fasnächtler und in diversen Sportvereinen aktiv, etwa als Handballer, Fussballer, Turner oder Schütze.