Einmal im Jahr geht’s nach Brasilien

Im Gespräch Die Wangnerin Marlene Grieder, pensionierte Werklehrerin, unterstützt seit Jahrzehnten eine Basisschule in einem Armenviertel der brasilianischen Grossstadt Recife. Im November war sie erneut dort zu Besuch.

Schülerinnen und Schüler der «Uniao Comunitaria» in Recife. (Bild: ZVG)

Schülerinnen und Schüler der «Uniao Comunitaria» in Recife. (Bild: ZVG)

Marlene Grieder setzt sich seit mehr als 30 Jahren mit viel Leidenschaft für eine Grundschule in Brasilien ein. (Bild: Achim Günter)

Marlene Grieder setzt sich seit mehr als 30 Jahren mit viel Leidenschaft für eine Grundschule in Brasilien ein. (Bild: Achim Günter)

Alles begann mit einem Zufall. Aus dem Besuch einer Freundin wurde ein Lebensprojekt. Eines, das inzwischen schon mehr als 30 Jahre währt. Und eines, das Marlene Grieder schon viele unvergessliche und berührende Momente beschert hat und längst nicht mehr aus ihrem Alltag wegzudenken ist. Das Engagement hat sie noch nie bereut, auch wenn sie mit einem Lachen sagt: «Ich wollte das nicht. Ich wollte das wirklich nicht.» In ihrer Wohnung in Wangen ist das Lebensprojekt namens «Liberdade» vielerorts präsent, mittels Postkarten, Zeichnungen, Fotografien oder sogar Fahnen.

1982 besuchte Marlene Grieder eine Jugendfreundin in Rio de Janeiro. Auf der anschliessenden Reise lernte sie eine deutsche Lehrerin kennen, die bald darauf in Brasilien heimisch wurde. Die beiden Frauen in den 30ern blieben miteinander in Kontakt. Zehn Jahre nach dem Kennenlernen, 1992, stattete ihr Grieder einen Besuch ab. Inzwischen engagierte sich die deutsche Bekannte in drei Hilfsprojekten. Das eine war der Betrieb einer 1988 gegründeten Grundschule in der nordostbrasilianischen Millionenstadt Recife. Grieder zeigte sich beeindruckt vom Engagement und versprach Hilfe für die finanziell darbende Schule.

Riskanter Geldtransfer

Zurück in der Schweiz sammelte die Werklehrerin, die insgesamt 44 Jahre an der Schule in Wangen tätig war, innert dreier Monate 25000 Franken. Hauptsächlich bei Lehrerkolleginnen und -kollegen. Da bei einer Banküberweisung der Verlust aufgrund hoher Gebühren zu gross gewesen wäre, schnallte sie sich einen Geldbeutel um den Bauch und brachte den gesamten Spendenbetrag als Bargeld nach Brasilien. Diese eigenwillige und riskante Praxis behielt sie einige Jahre bei. Denn seit jenem Jahr, 1992, «lebt» die Basisschule in einem Slum in Recife praktisch ausschliesslich von Spendengeldern aus Wangen und Umgebung. 1994 professionalisierte Grieder das Ganze, indem sie den Verein Liberdade (Freiheit) gründete, den sie noch heute präsidiert. Ein Ausstieg aus dem Projekt war seither kein Thema für sie. «Daran habe ich gar nie gedacht.»

Zahnbürsten, Plüschtiere, Schoggi

Die heute 72-jährige dreifache Grossmutter bringt seither jährlich Schulmaterialien und weitere Produkte in die unterstützte Schule: etwa Zahnbürsten, Klebebänder, Bleistifte oder auch gebrauchte kleine Plüschtiere und Schokolade. Viel Brauchbares, was auch in Brasilien erhältlich ist, hierzulande jedoch in besserer Qualität. Im November besuchte Grieder die Schule in Recife erneut. Drei prall gefüllte Koffer nahm sie auch diesmal wieder mit. Während der paar Wochen in Recife ist sie jeweils selbst als Werklehrerin tätig und führt mit den einheimischen Lehrpersonen zudem pädagogische Seminare durch.

Bis zu 180 Schülerinnen und Schüler

Mit dem Spendengeld wurden in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten die Infrastruktur der Schule verbessert, Unterrichtsmaterialien oder Mobiliar angeschafft, vor allem aber die Löhne der Lehrerinnen und der Schulleiterin bezahlt. Der Verein Liberdade verfügt inzwischen über rund 600 Spenderinnen und Spender, die jährlich gut 80000 Franken in den Betrieb der Schule fliessen lassen. An der Schule Uniao Comunitaria werden bis zu 180 Schülerinnen und Schüler von acht Lehrpersonen ganztags betreut, unterrichtet und auch mit drei Mahlzeiten versorgt.

Während der Aufenthalte wohnt Grieder jeweils bei der Schulleiterin, einer studierten Psychologin. Mit ihr – inzwischen ebenfalls 72-jährig – tauscht sich Grieder mindestens wöchentlich aus. Vor rund 20 Jahren befasste sich die Werklehrerin mal ernsthaft mit dem Gedanken, nach Brasilien auszuwandern und in der «Uniao Comunitaria» zu unterrichten. Sie verwarf die Idee aber wieder. «Ich stand hier mitten im Berufsleben. Und das Leben dort ist unheimlich kompliziert. Aber gereizt hätte es mich schon.»

Ein Ende ist nicht in Sicht

An ein baldiges Kürzertreten denkt Grieder noch nicht sehr intensiv. «Solange ich kann, mache ich weiter. Ich habe zwar viel Arbeit mit dem Projekt, aber es gibt mir auch viel.» Früher hatte sie sich in der Ortspartei der SP engagiert, als Parteipräsidentin, Gemeinderätin oder als Mitglied verschiedener Kommissionen.

Die alleinstehende Rentnerin wandert gerne, fährt Ski und Langlauf, kümmert sich um ihren Garten und ihre drei Enkel im Teenageralter. Platz für Langeweile bleibt da nicht. Lachend meint sie: «Die Zeit rast unheimlich.» Und in wenigen Monaten steht ja bereits Marlene Grieders nächster Trip nach Südamerika an. Natürlich wieder mit vollen Koffern im Gepäck.

 

...und ausserdem

Diese Person möchte ich gerne mal treffen

Einen Ex-Freund aus Brasilien. Wir waren eine Zeitlang zusammen, ein ganz toller Mann. Ihn würde ich gerne nochmals treffen.

So entspanne ich mich am besten

In der Sauna. Ich gehe jede Woche hin.

Dieses Verhalten ärgert mich

Mich ärgert, wenn Leute nicht ehrlich sind mit mir, wenn sie lügen. Das macht mich auch traurig.

Weitere Artikel zu «Im Fokus», die sie interessieren könnten

Im Fokus28.02.2024

Gefrässig und vermehrungsfreudig

Asiatische Hornisse Die Verbreitung der Asiatischen Hornisse bedroht einheimische Bienenvölker. Die Bevölkerung ist dazu aufgerufen, Sichtungen zu…
Im Fokus28.02.2024

Wirz-Burri – Kolonialwaren und Delikatessen am Bifangplatz

Briefgeschichten Am Bifangplatz befand sich vor rund hundert Jahren an prominenter Lage der Laden zum «Bifanghof» von Paul Wirz-Burri. Die…
Im Fokus28.02.2024

«Unsere Lieder sind Medizin für unsere Herzen»

Olten Der Gedenkanlass «Zwei Jahre Krieg in der Ukraine» in der Stadtkirche wurde von weit über 200 Personen besucht.