«Ein Time-out in meinem Leben»

Unvergessen Der Lostorfer Guido Lüthi stand selten auf der Sonnenseite des Lebens. Seine Mutter verliess die Familie, als er zwölf war. Später folgten Aufenthalte in der Psychiatrischen Klinik und in einem Heim für Erwachsene.

Das intensive Velofahren tut Guido Lüthi Junior psychisch enorm gut. Im Sommer legt er rund 250 Kilometer pro Woche zurück. (Bild: Achim Günter)

Das intensive Velofahren tut Guido Lüthi Junior psychisch enorm gut. Im Sommer legt er rund 250 Kilometer pro Woche zurück. (Bild: Achim Günter)

Guido Lüthi während seines Aufenthaltes im Heim Mitte der 2000er. (Bild: ZVG)

Guido Lüthi während seines Aufenthaltes im Heim Mitte der 2000er. (Bild: ZVG)

Guido Lüthi Junior, 1981 geboren, wuchs als mittleres von fünf Kindern in Lostorf auf. Er hat zwei ältere und zwei jüngere Schwestern. Der Vater arbeitete als Lastwagenchauffeur. Die Mutter führte ein unstetes Leben und war oft abwesend. Erzogen wurden Guido Lüthi und seine Schwestern hauptsächlich vom Vater und dessen Mutter. Als Guido Lüthi zwölfjährig war, verliess die Mutter die Familie. Schon in seiner Jugend erhielt er eine POS- beziehungsweise ADS-Diagnose und litt unter Depressionen. Nach der obligatorischen Schulbildung nahm er mit 17 Jahren ein Praktikum im Gastgewerbe in Angriff, brach dieses jedoch vorzeitig ab. In der Folge verdiente er während Jahren Geld als ungelernte Arbeitskraft – im Sommer im Postverteilzentrum, im Winter im Gastgewerbe, zum Beispiel in Davos. Über einen festen Wohnsitz verfügte er in jenen Jahren nicht, er kam meist bei Kollegen oder Bekannten unter.

 

«Meine Schriften lagen immer in Lostorf. Der Kontakt zur Gemeindeverwaltung brach nie ab. Eines Tages, ich wohnte damals in Luzern bei einem Onkel, meldete sich der damalige Lostorfer Gemeindeschreiber bei mir. Er sagte: ‹Guido, wir wollen dir helfen!› Das rechne ich ihm noch heute hoch an. Ich schätze ihn sehr. Nicht jeder Gemeindeschreiber würde das machen. Er riet mir, in Lostorf eine Wohnung zu suchen und das Sozialamt zu konsultieren. Ich überlegte lange, zögerte. Mein Motto war immer gewesen, nie vom Staat leben zu müssen.

Drei, vier Monate später rief ich den Gemeindeschreiber an und sagte, dass ich in Lostorf eine Wohnung nehmen würde. Ich arbeitete in jener Zeit jedoch nicht, hing oft herum – und fiel schliesslich in ein tiefes Loch. Damals konsumierte ich regelmässig Cannabis und trank viel Alkohol. Das war Mitte der 2000er-Jahre, ich war da um die 25. Meine ganze Vergangenheit kam damals hoch. Schliesslich dachte ich an Suizid – und unternahm auch einen Selbstmordversuch mit Alkohol und Tabletten. Es war aber mehr ein Hilferuf. Ich rief meinen Vater an, nachdem ich die Dinge geschluckt hatte, und der suchte mich dann sofort auf. Wenig später informierte er meine damalige Beiständin.

Diese entschied schliesslich, dass ich nicht mehr allein in dieser Wohnung bleiben konnte. Sie riet mir, mich in die Psychiatrische Klinik in Solothurn einweisen zu lassen. Nach einer Woche wurde dort ein Platz frei. Was mich damals auch runterzog: In jenem Sommer war eine Frau von mir schwanger. Sie trieb das Kind aber ohne mein Einverständnis einfach ab. In der Klinik war ich rund fünf Monate. Es war ein Auf und Ab. Aber es war für mein Leben das Beste, was mir passieren konnte. Ich konsumierte in jenen Monaten auch kein Cannabis. Die Therapien und Gespräche empfand ich als ziemlich gut. Der behandelnde Psychiater fand dann, es sei für mich am besten, für eine Weile in einem Heim für Erwachsene unterzukommen, um dort meinen Weg finden zu können. So trat ich in die Stiftung Schmelzi in Grenchen ein. Ich wohnte in der WG Castello, einer Aussengruppe der Schmelzi. Dort blieb ich zwei Jahre.

Es gab Gesprächstherapien, psychologische Therapien, Gruppengespräche, Kurse in Haushaltführung. Und es gab auch ein Beschäftigungsprogramm. Am Morgen musste ich jeweils arbeiten. Es war eine wertvolle Zeit, dir mir für mein weiteres Leben half. In jenen Monaten konnte ich überlegen, was ich eigentlich mit meinem Leben anfangen will. Der Schritt in die Schmelzi war richtig, ich bin froh, dass ich den damals gemacht habe. Als ich das Heim verliess, ging es mir besser. Noch heute nehme ich zwar psychologische Hilfe in Anspruch und habe mit meiner Vergangenheit zu kämpfen. Aber die zwei Jahre im Heim taten mir gut. Ich bereue diese Zeit überhaupt nicht. Ich betrachte sie als Time-out in meinem Leben. Ich habe dort viel gelernt.

Doch nach zwei Jahren sah ich den Zeitpunkt gekommen, um das Heim zu verlassen. Es bestand auch ein gewisser Druck seitens der Behörden. Die Wohnung in Lostorf hatte ich inzwischen gekündigt, so zog ich vorerst zu einer meiner Schwestern nach Trimbach. Glücklicherweise fand ich nur einen Monat später einen Job in einem Entsorgungsunternehmen in Zofingen. Bei diesem arbeite ich bis heute als Kehrichtbelader. Zu Beginn habe ich nur an drei Tagen gearbeitet, um wieder in der Arbeitswelt Fuss fassen zu können. Denn begleitetes Arbeiten ist anders als die richtige Arbeitswelt. Der Druck in letzterer ist höher.

Was mir neben dem Job sehr viel Halt gibt, ist das Velofahren. Mit dem ersten Lohn als Kehrichtbelader kaufte ich mir ein Bike. Ein Psychologe hatte mir zu Sport geraten. Er sagte, ich solle mich sportlich betätigen, wenn ich den inneren Druck wieder mal kaum mehr aushalte. Und ich selbst wollte auch wegkommen von den Antidepressiva. Also probierte ich einige Sportarten aus. Irgendwann entschied ich mich fürs Velofahren, das ich bereits in meiner Jugend oft ausgeübt hatte.

Zu Beginn war ich mit dem Mountainbike unterwegs, jetzt seit Jahren mit dem Rennvelo. Das gibt mir enorm viel! Es tut mir gut. Velofahren ist mein Leben! Hin und wieder bestreite ich auch Rennen. Pro Woche fahre ich rund 250 Kilometer, zumindest im Sommer. Ich lege auch den Arbeitsweg von Lostorf nach Zofingen mit dem Velo zurück. Für meine Psyche ist Velofahren das Beste. Manchmal liegt mir etwas auf der Seele: Dann nehme ich das Velo und fahre zum Beispiel von Lostorf auf die Schafmatt und via Wisen und Hauenstein nach Hause. Danach fühle ich mich wie gelöst. Wenn ich das nicht machen würde, könnte der Druck in mir nicht entweichen.»

 

Guido Lüthi Junior arbeitet seit 13 Jahren als Müllmann bei einem Entsorgungsbetrieb. Nach mehr als einem Jahr Aufenthalt bei einer Schwester in Trimbach zog er mit seiner Partnerin nach Winznau, später zurück nach Lostorf. 2023 war ein schwieriges Jahr für ihn. Private Schicksalsschläge setzten ihm zu. «Aber ich kenne meinen Körper und Kopf inzwischen, weiss, wie ich die Zeichen deuten und reagieren muss.»

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