Ein «Hoi» für Alex Capus

Rafael Widmer pflegt auf seinem Balkon einen Flaschengarten und ist als Schulkind unrechtmässig zum König gekrönt worden. Im Gespräch verrät er, warum er Briefe von Hand schreibt und wieso alte Erfindungen noch immer die Besten sind.

Rafael Widmer ist ein Weltenbummler, der in Olten Fuss fassen möchte. (Bild: S. Furter)
Rafael Widmer ist ein Weltenbummler, der in Olten Fuss fassen möchte. (Bild: S. Furter)

Der Kaffee auf dem Herd brodelt in einem Bialetti-Espresso-Kocher. Einer Kuh nachempfunden ist die Kanne mit schwarz-weissen Flecken dekoriert. «Diese modifizierten Kaffeekocher-Milch- schäumer gibt es seit den 1920er Jahren», verrät Rafael Widmer, der in einem 60%-Pensum
in einer Kommunikationsagentur tätig ist. Der Kocher auf dem Herd steht sinnbildlich für verschiedene Technologien, die es schon seit mehr als hundert Jahren oder länger gibt und die «nichts von ihrer Attraktivität eingebüsst hätten». Beständigkeit und Moderne sind zwei Themen, die im Leben von Widmer zentral sind. «Die Eisenbahn ist vor über zweihundert Jahren erfunden worden und ist auch im 21. Jahrhundert noch das beste Fortbewegungsmittel.» Etwas weniger, nämlich rund hundertfünfzig Jahre, habe das Fahrrad auf dem Buckel, führt Widmer aus, der in seinem Zimmer auf braunem Papier eine Eisenhower-Matrix aufgezeichnet hat. Ein analoges Tool, das Dinge, die zu erledigen sind, in vier Kategorien einteilt. Wichtig und dringend, wichtig und nicht dringend, sowie dringend, aber nicht wichtig und nicht dringend und nicht wichtig. «Die Notizzettel sind physisch vorhanden. Ich kann mit dem Kugelschreiber draufschreiben, sie hinpappen, eine Idee festhalten und meine Zeit einteilen.» Dies helfe ihm, sich nicht zu «verzetteln», so Widmer schmunzelnd.

Ziegenhirt in Norwegen

Auf dem Esstisch steht eine pinkfarbene Giesskanne, während draussen auf dem Balkon ein Flaschengarten blüht. Darauf angesprochen erklärt Widmer lachend: «Das Teil ist mir auf dem Flohmarkt aufgeschwatzt worden.» Seither beherbergt die Flasche ein in sich geschlossenes Ökosystem, das sich selber reguliert. «Obwohl ich keinen grünen Daumen habe, ist der Flaschengarten für mich eine schöne Metapher für die Erde, auf der wir leben.» Ressourcen seien begrenzt, unendliches Wachstum unmöglich. «Als Student kannte ich es nur zu gut, dass das Geld knapp ist, während mir heute mehr die Zeit fehlt.» Aufgewachsen ist Widmer als Jüngster von drei Geschwistern in Wohlen im Kanton Aargau. Als es anlässlich des Dreikönigstags in der Schule Kuchen gab, habe er als Junge ein Plastik-Figürchen vom letzten Jahr mit in die Schule geschmuggelt und in sein Brötchen gesteckt. «Natürlich war die Überraschung gross, als plötzlich zwei Schüler aus der Klasse die Krone für sich beanspruchten», erinnert er sich schmunzelnd. Die Lehrerin habe sogar bei der Bäckerei angerufen, um sich über den vermeintlichen Fehler zu beschweren. Ebenfalls bereits als Kind habe sich seine Faszination für Züge gezeigt. «Lokführer war einer meiner frühesten Berufswünsche. Ein anderer war Ziegenhirt in Norwegen oder Kellner im nostalgischen «Orient-Express» zu werden.» In Wohlen hat Widmer die Kantonsschule besucht und anschliessend an der Hochschule St. Gallen internationale Beziehungen studiert und in Paris einen Master in Umweltpolitik gemacht.

Denke global, handle lokal

Durch sein Studium sei ihm bewusst geworden, dass alle Probleme des 21. Jahrhunderts einen globalen Ursprung haben, «Lösungen jedoch lokal implementiert werden müssen.» Getreu dem Motto «denke global, handle lokal» engagiert sich Widmer bei der «RestEssBar» in Olten. Scheppernd fährt er mit seinem Fahrrad und Anhänger durch die Strassen. «Es ist auch mein Verdienst, dass an manchen Tagen fünf Kilogramm Esswaren nicht weggeworfen werden. Das motiviert mich dazu, mich ehrenamtlich zu engagieren.» In seiner Freizeit liest Widmer gern, unternimmt Reisen oder schreibt Briefe von Hand. «Analog zu leben braucht Zeit. Doch ein handgeschriebener Brief ist wertvoller als 50 WhatsApp-Nachrichten.» Auch spielt er Cello und kocht gerne Eintöpfe oder Bündner Gerstensuppe. Sein Masterstudium in Umweltpolitik hat Widmer in verschiedene Länder und Kontinente geführt. Er ist nach Ägypten und in den Nordirak gereist. «Der nahe Osten ist eine Kultur, die meiner Meinung nach oft missverstanden wird.» In Paris hat er sich in einem Austauschsemester mit Verkehr, Mobilität und Energie beschäftigt. Die Liebe hat er jedoch nicht in der viel beschworenen «Stadt der Liebe» sondern im hohen Norden gefunden. «Kennen gelernt haben meine Freundin und ich uns zwar in St. Gallen, aber dadurch, dass sie halb Norwegerin ist, bringt sie einen faszinierenden Kulturraum mit.»

Das Leben als Weltenbummler

Wenig verwunderlich, begrüsst ein Plakat am Eingang seiner Wohnung den Besucher in den verschiedensten Sprachen, von Französisch über Norwegisch, Arabisch bis Russisch: Willkommen, Bienvenue, Benvenuti, Bainvegni, Welcome, Välkomna, Velkommen, Welkom, Bienvenidos. Das Leben als Weltenbummler hat Widmer zwar neue Horizonte eröffnet, jedoch auch Unstetigkeit mit sich gebracht. «Aktuell wünsche ich mir, in Olten Fuss zu fassen und mich hier zu verwurzeln.» Er lebt in Trimbach in einer Wohngemeinschaft und schätzt, dass es in Olten Initiativen wie die «LeONa» gibt, die sich für eine lebendige Nachbarschaft einsetzen. «Olten ist zwar kleinstädtisch und überschaubar, aber voller Ideenreichtum.» Er denke da auch an den Zeittauschmarkt, wo Leistung gegen Leistung getauscht werde und der eine Alternative zur Monetarisierung biete. Als Zuzüger müsse er sich gegenüber Aussenstehenden oft erklären, warum er gerne in Olten lebe. «Dabei ist die «Literatourstadt» ein sehr schönes Fleckchen.» Wenn er am Morgen der Aare entlangjogge, sei er von grünen Hügeln umgeben und Vögel flögen aus den Bäumen gegen den blauen Himmel. Auch sei er als Neu-Solothurner voll akzeptiert und werde nicht wie in Paris oder an der Hochschule anhand von Kleidung, Status und Auftreten beurteilt. So rufe er dem bekannten Schriftsteller Alex Capus ein «Hoi» zu, wenn dieser mit dem Velo an ihm vorbeiradle. «In der Dreitannenstadt wirst du einfach als Mensch gesehen.»

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