«Die Geste hat mich unheimlich berührt»

Unvergessen Mitte der 1950er-Jahre, als es kaum Autos und schon gar keine Smartphones gab, als junge Frau allein am falschen Bahnhof gestrandet: Gertrud Baumann erinnert sich heute, 65 Jahre danach, mit grosser Dankbarkeit an die damalige Hilfe eines Kondukteurs.

Gertrud Baumann als 19-Jährige. (Bild: ZVG)

Gertrud Baumann als 19-Jährige. (Bild: ZVG)

65 Jahre später am damaligen Schauplatz: Gertrud Baumann letzte Woche am Bahnhof Olten Hammer. (Bild: AGU)

65 Jahre später am damaligen Schauplatz: Gertrud Baumann letzte Woche am Bahnhof Olten Hammer. (Bild: AGU)

Gertrud Baumann wurde 1936 in La Chaux-de-Fonds geboren. Die aus der Deutschschweiz stammenden Eltern zogen zwei Jahre später nach Wangen bei Olten. Hier wuchs die kleine Gertrud ohne Geschwister auf; ein Halbbruder von ihr lebte in Kanada. Aus dem Kindergarten sei sie rausgeschmissen worden, weil sie nicht mit Puppen habe spielen wollen. Die den Kindergarten leitende Schwester habe sie als «Buebemeitli» verunglimpft. Gertrud Baumanns Vater stellte als Selbständiger für verschiedene Zeitungen Clichés her, die Mutter war Hausfrau und besorgte die Büroadministration des väterlichen Betriebes. Nach der obligatorischen Schulzeit wechselte Gertrud Baumann ans damalige Lehrerseminar in Solothurn. Während der Zeit im Seminar verstarb ihr Vater.

«Zu jener Zeit, Mitte der 1950er-Jahre, herrschte Lehrermangel. So wurden einige von uns Seminaristen von der Seminarleitung noch vor Abschluss der Ausbildung gefragt, ob wir bereits unterrichten wollten. Ich war damals knapp 20 Jahre alt und hätte das Lehrerseminar eigentlich noch ein halbes Jahr besuchen müssen. Doch ich dachte mir, ich hätte jetzt genug Schule gehabt und sagte zu, ab sofort zu unterrichten. Die an sich vierjährige Ausbildung musste ich nicht abschliessen, dafür später mal während meiner Zeit als Lehrerin in verschiedenen Schulen hospitieren und Vorlesungen besuchen. Meine erste Arbeitsstelle war die Primarschule Niederbuchsiten: 1. bis 3. Klasse mit rund 40 Kindern – eine wahnsinnig strenge Zeit.

Während des Lehrerseminars hatte ich in Solothurn im Mädchen-Kosthaus und während des letzten Jahres in einem privaten Zimmer gelebt. Ich musste vor dem Stellenantritt im Gäu noch meine Kleider und restlichen Sachen in Solothurn holen gehen. An jenem Abend feierten all jene, die das Seminar vorzeitig verliessen, ihren Abschluss. Es wurde spät. Ich kehrte dann gegen Mitternacht alleine mit dem Zug heim nach Wangen – beziehungsweise wollte das. Es war Vorweihnachtszeit, und im Zug ging es hoch zu und her. Gastarbeiter aus Italien freuten sich auf die Heimkehr zu ihren Familien und feierten ausgelassen. Irgendwann nahte der Bahnhof Wangen und ich wollte aussteigen. Ich machte mich parat. Aber es war beidseits alles mit Koffern vollgestellt, was mir vorher gar nicht aufgefallen war, weil ich mich so in die Fröhlichkeit und das Singen dieser Leute vertieft hatte. Bis ich die Türe erreicht hatte, setzte der Zug seine Fahrt bereits fort. Ich steckte im Zug fest und konnte nicht aussteigen.

Bei der nächsten Station Olten Hammer konnte ich schliesslich den Zug verlassen. Ich hatte Herzklopfen, ja, mehr als das, sogar Augenwasser. Ich war verzweifelt. ‹Was soll ich jetzt bloss hier machen, um Mitternacht am Bahnhof Olten Hammer mit zwei Koffern in der Hand?› Einer der Kondukteure war ebenfalls ausgestiegen. Ich wandte mich an ihn und berichtete ihm, dass ich eigentlich in Wangen hätte aussteigen sollen und nun nicht wüsste was tun. Der Fussweg nach Hause hätte mindestens eine Stunde gedauert. Taxis gab es zu jener Zeit nicht. Und ich hatte gar kein Portemonnaie dabei, bloss mein Schülerabo. Einfach kurz die Mutter anrufen, so wie man das wohl heute tun würde, konnte ich natürlich auch nicht. Ausserdem hatte damals in Wangen noch fast niemand ein eigenes Auto.

Der Kondukteur sagte zu mir: ‹Warte hier, ich gehe nur kurz ins Bahnhofgebäude rein und komme gleich wieder.› Er kehrte zurück, drückte mir ein Fünfzig-Rappen-Stück in die Hand und meinte: ‹Schau, das reicht für den Bus. Bald kommt der letzte, der nach Wangen fährt. Und hier gebe ich dir noch ein Mandarinli als Verpflegung für unterwegs.› Das hat mich unheimlich berührt. Vor allem die nette Geste mit dem Mandarinli. Als ich so vor diesem Kondukteur stand und das Mandarinli in den Händen hielt, wurde mir so richtig bewusst: ‹Jetzt stecke ich letztmals in den Kinderschuhen. Zwei Tage später werde ich als Lehrerin vor einer Klasse stehen müssen.›

Ich ging anschliessend mit meinen beiden schweren Koffern zur Bushaltestelle. Tatsächlich kam bald der Bus und ich konnte nach Hause fahren. Noch heute sage ich jenem Kondukteur von damals stets leise Danke, wenn ich irgendwo aus dem Zug aussteige. Die damalige Begegnung mit ihm habe ich nie wieder vergessen.»

Später unterrichtete Baumann auch in Wangen, wo sie aufgewachsen war, ehe sie heiratete und Mutter dreier Kinder wurde. Als Lehrerin begleitete sie immer wieder auch Schulreisen. Mit den SBB, lobt sie, habe sie immer nur gute Erfahrungen gemacht. In den letzten zehn Jahren ihrer Tätigkeit als Lehrerin führte ihr Arbeitsweg vom Wohnort im Kleinholz zum Bannfeldschulhaus stets beim Bahnhof Olten Hammer vorbei. Heute ist Gertrud Baumann längst Rentnerin. Sie ist 85 Jahre alt und wohnt in Olten.

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