«Alle Zeitzeugen sollen gehört werden»

Lesung Am Freitag, 18. September wird das neue Buch «Kein schöne Zeit in diesem Land« von Paul-Ernst Cohen vorgestellt. Der Autor nahm für seine Publikation nicht nur eine strapazöse Reise auf sich, sondern befasste sich auch intensiv mit der deutschen Deportations- sowie seiner eigenen Familiengeschichte.

Mit dem Velo begab sich Schriftsteller Paul-Ernst Cohen auf eine Velo- und Zeiten-Reise durch Deutschland, das Elsass und Südfrankreich. (Bild: vwe)
Mit dem Velo begab sich Schriftsteller Paul-Ernst Cohen auf eine Velo- und Zeiten-Reise durch Deutschland, das Elsass und Südfrankreich. (Bild: vwe)

Angefangen habe alles mit einem Spaziergang durch Freiburg im Breisgau (D) und einem vermeintlichen Mantel. «Ich war auf dem Rückweg von meinem Vater in Deutschland und verbrachte einen kurzen Zwischenhalt in Freiburg. Dabei fiel mir ein gefalteter Mantel auf der Balustrade der Wiwili-Brücke auf», erinnert sich Paul-Ernst Cohen an den wegweisenden Herbsttag vor zwei Jahren. Der Mantel entpuppte sich als Denkmal an den 22. Oktober 1940. Der Tag, der unter dem Namen «Wagner-Bürckel-Aktion» in die Geschichte einging und das Schicksal von über 6’500 Juden aus Baden und Saarpfalz besiegelte. Die Gedenkstätte «Vergessener Mantel mit Judenstern» erinnert an die damalige Deportation von jüdischen Bürgern in das Internierungslager Gurs in Südfrankreich, das auch als «Vorhölle» zu Auschwitz bekannt ist.

«Ich wollte mehr erfahren»

«Die Story hinter dem Mantel liess mich nicht mehr los und ich wollte mehr über diese spezielle Deportationsgeschichte erfahren», zeigt Cohen auf. So nahm der 62-Jährige Kontakt mit Zeitzeugen auf. «Ich sprach mit Frauen und Männern, die diesen schrecklichen Teil der deutschen Geschichte er- sowie überlebten und heute in den USA, der Schweiz oder in Israel leben», erzählt Cohen, der in den 70er-Jahren der Liebe wegen von Deutschland in die Schweiz auswanderte. Durch diese Gespräche konnte der Schriftsteller einen persönlichen Einblick in diesen wichtigen Teil der deutschen Ausgrenzungspolitik während der NS-Zeit erhalten. In den zahlreichen Erzählungen fand er überdies Parallelen zu seiner eigenen Familiengeschichte. «Eine Zeugin berichtete mir von einem Heinrich, der 1940 in eine psychiatrische Klinik eingeliefert wurde. Auch mein Grossvater und Grossonkel waren in solchen Anstalten stationiert, da sie versucht haben, sich das Leben zu nehmen, nachdem ihnen ihre Arbeitsmöglichkeiten entrissen worden waren», spricht Cohen ganz offen über seine Familie. Ausserdem wurde sein Grossonkel Ernst damals wegen Rassenschändung verurteilt und ins Konzentrationslager nach Dachau sowie anschliessend nach Buchenwald gebracht, wo er dann starb. «Die Familie väterlicherseits war halbjüdischer Abstammung. Dass mein Vater den zweiten Weltkrieg lebend überstand ist ein Schicksals-Geheimnis.»

Von Mannheim nach Gurs

Um die Ereignisse der Deportation vom Oktober 1940 sowie den Werdegang seiner drei Grossonkel besser zu erörtern, entschied sich Paul-Ernst Cohen für eine 1’170 Kilometer Fahrrad-Reise von Mannheim, wo die Deportation damals in der Unterführung des Bahnhofs startete, bis ins französische Gurs, den Ort des grössten Internierungslager Europas. Er fuhr den früheren Bahnlinien entlang und konnte so die Berichte der Zeitzeugen real mitverfolgen und auf eine neue Art erleben. Zwischen den drei Velo-etappen quer durch Deutschland besuchte der Geschichtsinteressierte auch zahlreiche Archive, in denen er nicht nur Dokumente von Deportationsopfern, sondern auch seines damals eingelieferten Grossonkels fand. «Es war ein unglaubliches Gefühl, den Originalabzug des Haftbefehls gegen meinen Grossonkel Ernst wegen Rassenschändung in der Hand zu halten», so der heutige Hauensteiner sichtlich berührt. All diese Vorkommnisse, Funde und Quellen hat Cohen in seiner Publikation «Kein schöne Zeit in diesem Land» zusammengefasst und ausführlich kommentiert. Der Buchtitel lehnt sich am bekannten Musikstück «Kein schöner Land» an und zeigt durch sein Wortspiel geschickt die Kehrseite des idyllischen Volksliedes auf. «Da mich das Thema selber sehr aufwühlte, war das Schreiben des Buches wie ein Loslassen von den Eindrücken und ein Ablegen meiner Gedanken», so Cohen und fügt an: «Ausserdem fühlte ich mich verpflichtet, die Geschichten der zahlreichen Zeitzeugen zu erzählen. Denn diese sollen und müssen gehört werden.»

Einzigartige Lesung im Bahnhof Olten

Und gehört werden sie bereits morgen, Freitag, 18. September am Bahnhof Olten - dies auf eine einzigartige Art und Weise. «Gemeinsam mit dem Saxofonisten Simon Spiess, der mich musikalisch begleitet, lese ich aus «Kein schöne Zeit in diesem Land» vor und nehme die Besucher dadurch mit auf eine Zeiten-Reise.» Kapitelwünsche, die vorgetragen werden sollen, nimmt der Autor sehr gerne entgegen.Die Location des Bahnhofs Olten sei sehr bewusst dafür gewählt. «Der Bahnhof soll symbolisch für die einzelnen Stationen der beschwerlichen Deportation stehen. Ausserdem wurden die bis zu 6500 Juden damals in der Unterführung in Mannheim gesammelt und anschliessend auf die Züge verteilt», erklärt Cohen weiter und überlegt laut: «Daher starten wir auch in Olten unsere Geschichte in der Unterführung.» An der Lesung können auch einige Exemplare des Buches von Cohen erworben werden. Der Gesamterlös der Verkäufe kommt der Susanna-Cohen-Stiftung, die der Schriftsteller 2007 gemeinsam mit seiner Frau gegründet hat, zugute. «Meiner Frau war es vor ihrem Tod wichtig, eine Organisation zu schaffen, die sich für gemeinnützige Freiwilligenarbeit und gegen Rassismus oder Xenophobie einsetzt. Diesen Gedanken möchte ich nun weiterführen», so Cohen, der sich beispielsweise am vergangenen Flüchtlingstag in Olten unter dem Thema «Archen für Boatpeople» engagierte. Cohens persönliche Reise in die Vergangenheit ist jedoch mit dem neu veröffentlichten Buch noch lange nicht abgeschlossen. «Stetig erhalte ich wieder neue Hinweise für Dokumente der damaligen Zeit, die noch nicht aufgearbeitet wurden. Ich möchte jeden Einzelnen dazu ermuntern, sich die Zeit zu nehmen, um genau hinzuschauen und seine eigene Geschichte oder die seiner Kultur zu studieren.»

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