Sich das Leid von der Seele malen

Livato Der Verein Livato bietet einen niederschwelligen Zugang zu kreativer Tätigkeit – insbesondere für Menschen mit einem psychischen Leiden. Solche Formen der Selbstheilung seien zukunftsweisend, sagt der Begründer Cyrill Jeger.

Cyrill Jeger und Merhaba Schaich möchten ein niederschwelliges Angebot für kreative Tätigkeit schaffen. (Bild: Caspar Reimer)
Cyrill Jeger und Merhaba Schaich möchten ein niederschwelliges Angebot für kreative Tätigkeit schaffen. (Bild: Caspar Reimer)

Wir möchten niederschwellig einen Ort für kreative Tätigkeit anbieten», erzählt der auf psychosomatische Erkrankungen spezialisierte Arzt Cyrill Jeger im Atelier von Livato an der Dornacherstrasse 32 in Olten. Die als Verein konstituierte gemeinnützige Einrichtung will Menschen mit oder ohne Beeinträchtigung einen Ort bieten, an dem sie sich persönlich entfalten und entwickeln können. Meist handle es sich dabei um Personen mit einer Depression, einem Trauma, einer Suchterkrankung oder einer Kombination verschiedener seelischer Belastungen.

«Das Malen in unserem Atelier ermöglicht einer betroffenen Person, einen anderen Zugang zu sich selbst zu finden», so Jeger. Dies sei in der heutigen Zeit besonders wichtig, denn: «Es gibt viel zu wenig Psychotherapieplätze. Professionelle Psychiater, Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten können der Nachfrage gar nicht gerecht werden. Deshalb muss die Zukunft der Medizin vermehrt auf Selbsthilfe und Selbstheilung setzen.» Manche Patientinnen und Patienten, die zu Livato kommen, seien zudem bereits «übertherapiert, was die klassische Psychotherapie anbelangt. Einen anderen Kanal zu schaffen, ist deshalb äusserst sinnvoll.» Jeger berichtet in diesem Zusammenhang von einem Patienten, der jahrelang unterschiedliche Therapien besucht hatte, dann aber beim Malen eines Apfels im Atelier von Livato in Tränen ausgebrochen ist. «Das Malen spricht eine andere Seite an. Das ist der Sinn eines solchen niederschwelligen Angebotes», sagt der 72-Jährige.

Inspiriert von New York

Der gemeinnützige Verein Livato existiert seit 2017. Inspiriert wurden die Gründer von der Living-Museum-Bewegung aus New York. Psychisch beeinträchtigte Menschen sollen dank kreativer Tätigkeit in ihrer persönlichen Entwicklung unterstützt werden. In Wil bei St. Gallen wurde 2004 das zweite Living-Museum ausserhalb der USA gegründet. Es ist Kunstmuseum und Arbeitsstätte für psychisch beeinträchtigte Personen in einem. Im Juni 2021 war es dann in Olten soweit: Der Verein Livato konnte sich nach mehrjähriger Suche bei der Künstlerin und ausgebildeten Maltherapeutin Merhaba Schaich in Untermiete einen Raum für sein Projekt sichern.

Die Idee des Vereins ist es, Menschen aus der sozialen Isolation zu holen, wie es in den Statuten heisst. Der Austausch und das Zusammensein mit Menschen in einem kreativen Umfeld verhelfe nachweislich zu mehr Wohlbefinden. Der Vorstand des Vereins setzt sich aktuell aus Gründungspräsident Cyrill Jeger, Atelierbetreuerin Merhaba Schaich und dem für Marketing und Sponsoring zuständigen Claude Vital zusammen.

Sich selbst zur Hand gehen

Merhaba Schaich unterstützt die Personen dabei, sich kreativ auszudrücken, wobei sie nicht gezielt interveniert, wie das bei der klassischen Maltherapie der Fall ist: «Zuerst lernen die Klientinnen und Klienten die Materialien kennen, die wir im Atelier zur Verfügung stellen, und ich erkläre, dass es sich hierbei nicht um eine kunsttherapeutische Behandlung handelt», erzählt Merhaba Schaich. Künstlerische Bewertungen des Gemalten würde sie keine vornehmen, weil dies einen Druck erzeuge. «Es geht um Ruhe und Entspannung und nicht darum, ein grossartiges Bild zu malen», erklärt sie. «Wichtig ist, was der Betroffene aus sich selbst malt. Darüber spreche ich auch mit den Betroffenen, falls das gewünscht ist.» So will sie den Personen mit der Strategie der Selbstermächtigung dabei helfen, die Selbstbestimmung über das eigene Leben zu stärken.

Oft seien die Betroffenen im täglichen Leben überfordert: «Wenn sie malen, können sie etwas Schönes erschaffen, auf das sie stolz sein können.» Schaich möchte damit den «einfühlsameren Teil des Ichs» betonen, der im durchrationalisierten Alltag oft vergessen gehe. Sie hofft, dass die Personen so «ihre eigene Weisheit» aktivieren und vom Malen profitieren könnten.

Die ursprünglich aus dem autonomen uigurischen Gebiet Xinjiang der Volksrepublik China stammende Schaich ist selbst auch künstlerisch tätig – zu Hause und im Atelier. Ihre Bilder stellt sie immer wieder aus, zuletzt bei einer Galerie in Basel. Die 51-Jährige ist mittlerweile Schweizerin und bezeichnet ihren eigenen Stil als expressiv-abstrakt. Häufig sind nur ansatzweise Personen mit Gesichtern erkennbar, die ineinander und mit der Umwelt zerfliessen. «Ich male sehr intuitiv und lasse mich vom Bild führen.» Das eigene Malen müsse ihr Wohlergehen und ihre Gesundheit unterstützen. Die Berufsrichtung Maltherapie einzuschlagen, sei daher eine bewusste Entscheidung gewesen.

Angebot bekannter machen

Derzeit kommen drei Personen regelmässig im Atelier vorbei, einige Interessierte hätten sich gemeldet. Cyrill Jeger möchte das Angebot einer breiteren Öffentlichkeit bekannt machen und kann sich gut vorstellen, das niederschwellige Angebot auszubauen.

Wer einen Nachmittag das Atelier besucht, soll künftig weniger als die erwünschten 25 Franken zahlen müssen – obwohl das Geld jetzt schon kein Hindernis für einen Besuch ist: Weniger als die Hälfte der Leute, die das Angebot bisher in Anspruch nahmen, berappten den Betrag.

Jeweils am Donnerstag- und Freitagnachmittag von 14 bis 17 Uhr können interessierte Personen sich an der Dornacherstrasse künstlerisch ausdrücken. Im Zukunft sollen wochentags weitere Halbtage dazukommen.

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