Glücksmomente trotz Krieg
Parasolka Seit 2007 setzt sich der Verein Parasolka für Menschen mit einer Beeinträchtigung in der Ukraine ein. Seit Kriegsausbruch leistet er zusätzlich Nothilfe. Trotz schwieriger Situation besuchte der Vorstand unter dem Präsidium von Andreas Schmid aus Lostorf Ende September seine langjährigen Projekt-Partner vor Ort.
In Uschhorod ist es friedlich. 800 Kilometer liegen zwischen der Stadt ganz im Westen der Ukraine und der Frontlinie im Osten. Dank der geografischen Lage direkt an der slowakischen Grenze blieb die Hauptstadt des Oblasts Transkarpatien mit ihren 120000 Einwohnerinnen und Einwohnern bisher von Angriffen verschont.
Spaziert man durch die historische Innenstadt, scheint der Krieg fast surreal. Läden und Cafés sind geöffnet. Zahlreiche Menschen schlendern bei sonnigem Herbstwetter in der längsten Lindenallee Europas dem Fluss Usch entlang, welcher der Stadt den Namen gibt. Die friedvolle Stimmung lässt einen beinahe vergessen, dass ein Teil dieser Menschen gezwungenermassen hier ist. Das solidarische Uschhorod beherbergt noch immer zig Tausende Inland-Flüchtlinge aus dem Osten, die Schutz vor Bomben und Zerstörung suchten.
Zwiespältig sind die Gefühle auch beim Restaurantbesuch. Im traditionellen Gasthaus in der Nähe der griechisch-katholischen Kathedrale fehlt es an nichts. Die Speisekarte reicht von Holubzi (Krautwickel) bis zu Vareniki (Teigtaschen). Die Gäste sitzen draussen beim Bier und lachen. Doch auf einer Kommode beim Eingang steht das Porträt eines Soldaten neben einer brennenden Kerze und erinnert daran, dass ein junger Mann aus ihrer Mitte im Krieg gefallen ist.
Einblick ins Nothilfelager
Situationen wie diese erleben die Vorstandsmitglieder des Schweizer Vereins «Parasolka» während ihres einwöchigen Aufenthalts in Transkarpatien immer wieder. Sie erschüttern. Die Reise in die kriegsversehrte Ukraine ist aber auch ermutigend. So zeigt der Besuch des von «Parasolka» mitunterstützten Nothilfelagers der Partnerorganisation CAMZ (Committee Aide Medical Zakarpattya), dass die Gelder in den richtigen Händen sind. Allein von diesem Lager aus wird fast täglich ein Lastwagen mit Hilfsgütern in den Osten geschickt.
Schlecht honorierte Betreuungsarbeit
Emotional ist der Besuch in den beiden vom Verein unterstützten Institutionen für Menschen mit Behinderung. Dank sehr treuen privaten Spenderinnen und Spendern, grosszügigen Stiftungsgeldern und einem enormen Einsatz des ehrenamtlichen Vorstands hat der Schweizer Verein in Tjachiv – ebenfalls Transkarpatien – ein Wohnheim für 25 junge Erwachsene mit einer geistigen Behinderung aufgebaut. Dieses gilt in der Ukraine als Vorzeigeprojekt und feiert nächstes Jahr sein 15-Jahr-Jubiläum. Das Angebot wurde in den letzten Jahren mit einer Frühförderstelle und neu mit einer Tagesstätte für Kinder mit einer Behinderung ergänzt. Weitere Ideen sind in der Projektphase, beispielsweise der Aufbau einer begleiteten Wohngruppe ausserhalb des Wohnheims. Trotz positiver Entwicklung gibt es im Behindertenwesen der Ukraine grosse Herausforderungen. Die Institutionen müssen mit noch knapperen Budgets haushalten, und die Löhne der Bertreuerinnen – fast ausschliesslich Frauen – sind so tief, dass manche 150 Prozent arbeiten, um über die Runden zu kommen.
Die Vision einer dualen Ausbildung
Zudem gibt es in der Ukraine keine Ausbildung für die Arbeit mit Menschen mit einer Beeinträchtigung. So erfolgt die Ausbildung «on the job» in den Institutionen. Deshalb setzt der Verein «Parasolka» seit Jahren auch auf Aus- und Weiterbildung. Er organisiert einen regen und wiederkehrenden Austausch zwischen schweizerischen und ukrainischen Berufsleuten mit gegenseitigen Besuchen, Workshops oder Fachtagungen.
Nun nimmt ein Projekt trotz Krieg wieder Fahrt auf, das der Verein «Parasolka» gemeinsam mit der Universität Uschhorod vor Corona lanciert hatte: Der Aufbau einer neuen Fakultät für Sozial- und Heilpädagogik mit einem dualen Ausbildungsgang für Betreuungspersonen im Bereich Beeinträchtigung. Vor kurzem haben die Uni-Verantwortlichen sogar Gebäude bezeichnet, in welchen die neue Fakultät einziehen könnte. Bei der Besichtigung der stark renovationsbedürftigen Bauten müssen die Parasolka-Vorstandsmitglieder jedoch leer schlucken. Ein solch grosses Projekt übersteigt die Möglichkeiten des kleinen Schweizer Vereins bei weitem. Und der Staat kann in Kriegszeiten keine finanziellen Mittel dafür sprechen. Dennoch will «Parasolka» an der Vision festhalten und unterstützt die Uni Uschhorod bei der Suche nach weiteren und grösseren Unterstützenden – damit die Lebensqualität von Menschen mit einer Behinderung nachhaltig verbessert wird.
Tief beeindruckter Vorstand
Nach einer intensiven und emotionalen Woche in der Ukraine überwiegt am Schluss die Zuversicht. «Wir erlebten ein Land, das sich trotz der riesigen und ungerechtfertigten Herausforderungen intensiv in die Zukunft bewegt», so das Fazit von Parasolka-Präsident Andreas Schmid aus Lostorf. Diesen Eindruck teilt Ruedi Iseli aus Olten, der sich seit vielen Jahren in Transkarpatien engagiert: «Die Projekte, die wir begleiten, entwickeln sich weiter, und es gibt viele Zukunftsvisionen.» Das stimme ihn zuversichtlich. Beat Hunziker aus Biel, ebenfalls langjähriges Vorstandsmitglied, bringt es auf den Punkt: «Ich war und bin beeindruckt, wie die Menschen in Transkarpatien mit der Situation umgehen. Sie negieren den Krieg nicht, aber sie schauen vorwärts und leben!»
Verein «Regenschirm»
Gründung 2007 Der Verein Parasolka (Regenschirm) wurde 2007 gegründet und will das Leben von Kindern und Erwachsenen mit Beeinträchtigungen in Transkarpatien verbessern. Ausgangspunkt war die schwierige Situation von Behinderten in der Ukraine. Eltern wurden nach der Geburt eines behinderten Kindes dazu gedrängt, dieses an den Staat abzugeben. Versteckt vor der Öffentlichkeit wuchsen die Kinder in abgelegenen Waisenhäusern mit wenig Zuwendung und Förderung auf. Wurden sie erwachsen, gab es für sei keine Alternative als das Leben in einer Psychiatrischen Anstalt. Durch das Netzwerk Schweiz-Transkarpatien/Ukraine (NeSTU) kam es zum Kontakt mit einem Waisenhaus; so entstand die Idee, Kinder und Erwachsene mit einer Beeinträchtigung in der Ukraine nachhaltig zu unterstützen – mit Investitionen in bauliche Massnahmen, mit dem Aufbau von Ateliers zur Beschäftigung, mit ambulanter Unterstützung von Eltern behinderter Kinder und insbesondere mit fachlicher Zusammenarbeit und Ausbildung. Der Verein Parasolka finanziert sich ausschliesslich über Spenden von Stiftungen und Privatpersonen, Mitgliederbeiträgen und Zuschüssen von einigen Kirchgemeinden und anderen Institutionen. boa