«Das Lesen kann man nicht ersetzen»
Roland Hochstrasser Während 39 Jahren leitete er die Jugendbibliothek Olten. In wenigen Wochen geht Roland Hochstrasser in Pension. Er freut sich darauf, wieder mehr Zeit für Erwachsenenliteratur zu haben.
Ob es für ihn beim Stellenantritt vorstellbar gewesen sei, bis zur Pensionierung zu bleiben. «Nein, das hätte ich mir nie vorstellen können.» Die Antwort kommt ohne jegliches Zögern. 1983 trat Roland Hochstrasser als Mittzwanziger die Stelle bei der Jugendbibliothek Olten an – und verliess sie nie mehr. In ein paar Wochen nun wird der gebürtige Aargauer 65 Jahre alt. Ab November kann er das Rentnerdasein geniessen. Simone Fasola folgt ihm nach als Leiterin der Jugendbibliothek Olten.
Diese – anfänglich hiess sie Jugendlesesaal – existiert seit 67 Jahren. Im Spätherbst 1955 hatten sie Schüler einer Oltner Handelsklasse nach rund einem Jahr Vorbereitung ins Leben gerufen. Hochstrasser prägte sie also während mehr als der Hälfte ihres Bestehens. Und der «Mister Jugendbibliothek» musste, wohl oder übel, auch all die technischen Entwicklungen in den vergangenen knapp vier Jahrzehnten mitmachen. Das Ausleihsystem zum Beispiel, das seinerzeit Jugendliche entwickelt hatten, musste über mehrere Jahre durch ein moderneres elektronisches System ersetzt werden. Weitere technische Ausbauschritte folgten. Mit einem Schmunzeln bilanziert Hochstrasser: «So ergab sich das eine und das andere – und plötzlich waren 39 Jahre vergangen.»
Dass es ausgerechnet ihn, der in seiner Jugend weder ein Bibliotheksbenützer gewesen war noch aus einem speziell lesefreudigen Elternhaus stammt, in eine Jugendbibliothek verschlagen hat, mag Zufall sein. Dass er dieser danach treu blieb, ist es nicht. Die Frage, aktiv nach einer beruflichen Alternative Ausschau zu halten, habe sich für ihn nie gestellt. «Weil hier eben immer wieder ein neues Projekt gewartet hat.»
Er habe sich nicht sehr für Kinder- oder Jugendliteratur interessiert. «Aber es war natürlich mein Anspruch, unsere Bücher zu kennen. Ansonsten hätte ich sie nicht vermitteln können. Ich las die Zusammenfassungen der Bücher, manchmal Rezensionen, hin und wieder auch Bücher in Teilen.» Hochstrasser bestimmte auch hauptsächlich, was in den wachsenden Bücherbestand aufgenommen wurde. Dazu tauschte sich der Wahloltner regelmässig mit Kolleginnen und Kollegen vergleichbarer Institutionen aus.
Vom Buchhändler zum Bibliothekar
Nach der Matura in Aarau war Hochstrasser bewusst geworden, dass ein Studium für ihn nicht das Richtige sein würde. Eine glückliche Fügung wollte es, dass bald ein Platz für eine verkürzte Lehre in jener Buchhandlung zu besetzen war, in der er sich stets ausgesprochen wohlfühlte. Nach Abschluss der Lehre blieb er dem Buchladen weitere vier Jahre treu. Bis zu jenem Tag, als ihn eine Arbeitskollegin auf die zu besetzende Stelle bei der Jugendbibliothek Olten aufmerksam machte. Hochstrasser bewarb sich und erhielt die Zusage. «Die Idee war, diesen Job vier Jahre zu machen.» Damals wurde er noch als Beamter für vier Jahre gewählt.
Aus den beabsichtigten vier Jahren wurden fast 40. Ende Oktober geht Hochstrasser in Pension, ab Anfang Oktober wird er seine Nachfolgerin einarbeiten. Ein bisschen Wehmut, sagt er lachend, sei schon vorhanden, wenn er an den baldigen Abschied von der Jugendbibliothek denkt. «Aber die Freude überwiegt. Ich freue mich auf die Zeit, in der ich keine Verantwortung mehr haben werde. Das wird eine Erleichterung sein.»
Im Vorjahr nutzten 2400 Personen die Dienste der Oltner Jugendbibliothek. Sie sind zwischen zwei und 16 Jahren alt. Die technischen Entwicklungen hätten dafür gesorgt, dass die Bibliothek habe wachsen können. «Nun ist sie etwa doppelt so gross wie bei meinem Arbeitsantritt, und es kommen ungefähr doppelt so viele Leute wie damals», berichtet Hochstrasser. Das Verlängern der ausgeliehenen Bücher oder deren Ausleihe geschieht heute dank der technischen Errungenschaften wesentlich schneller als einst. «Man kann so mehr Leute in kurzer Zeit bedienen.»
Zahl der Lesenden bleibt konstant
Entgegen der weitverbreiteten Meinung lese die heutige Jugend nicht weniger als früher, glaubt Hochstrasser. «Als ich hier anfing, hiess es: Rund ein Drittel ‹verschlingt› Bücher, rund ein Drittel liest Bücher, weil es muss, und rund ein Drittel ist kaum ans Lesen heranzuführen. Heute ist das noch immer gleich.» Der bald 65-Jährige ist überzeugt: «Das Lesen an sich kann man nicht ersetzen.» Nur Bücher gelänge es derart gut, einen Raum für Fantasie zu schaffen. Schon in seinem Verwaltungsbericht 1984 hatte Hochstrasser geschrieben: «Nicht alle Menschen wollen lesen. Aber für viele Jugendliche ist Lesen Abenteuer, Unterhaltung, Phantasie, Information. Bücher sind für sie so wichtig und notwendig wie Brot und Salz – und werden es bleiben, auch wenn ihnen immer mehr verführerische Kassetten, modernste TV-Apparate und andere Ersatzmittel zur Verfügung stehen.»
Anlass für allzu viel Kulturpessimismus scheint also nicht gegeben. Eine kritische Anmerkung kann sich Hochstrasser indes nicht verkneifen. «Sachen, die nichts kosten, sind nichts wert. Heutzutage wird weniger Sorge getragen zu den Büchern als einst. Sie müssen häufiger ersetzt werden.»
Dem Medium Buch wird Hochstrasser auch nach seinem Abschied von der Jugendbibliothek treu bleiben. Aber der Fokus wird künftig ein anderer sein. «Die Beschäftigung mit Jugendliteratur schliesse ich mit dem Austritt für mich ab.» Da er beruflich viel lesen musste, blieb ihm wenig Zeit für private Lektüre. Auf diese freut er sich nun umso mehr. Das neue Buch von John Irving werde er sich sicher anschaffen, auch dasjenige von Ian McEwan.